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Lüdenscheider Zeitbilder
 

1937: Helden und Opfer der Arbeit

Foto: Das Foto zeigt zwei Statuen: Muskolöse MÀnner: NS-Kunst

1. Propaganda für die Arbeit 1937

Mit dem Vierjahresplan bereiteten die Politiker der NSDAP, Unternehmer und Offiziere die Autarkie Deutschlands und die Möglichkeit eines Angriffskrieges vor. Hierfür mussten alle Arbeitskräfte mobilisiert werden. Hierzu verwendete die NS-Propaganda besonders die Schlagworte Aufbauarbeit und Aufrüstung. Sie standen im Mittelpunkt von drei Großereignissen:

a) dem Kreisparteitag der NSDAP in Altena-Lüdenscheid,
b) der halbjährigen Ausstellung "Schaffendes Volk" in Düsseldorf und
c) dem Reichsparteitag in Nürnberg mit mehr als 100.000 Teilnehmern, von denen ca. ein Promille aus Lüdenscheid kam.

a) Zum Kreisparteitag im Mai 1937 veröffentlichte der Generalanzeiger eine Sonderbeilage mit verschiedenen Beiträgen. NSDAP- Kreisleiter Walter Borlinghaus schrieb unter der Überschrift:

"Auch Du marschiere mit!":
"Stellen wir unseren Kreistag unter den Gedanken einer nunmehr vierjährigen Aufbau-Arbeit, die gerade in Lüdenscheid und unserem Kampfgebiet in ihren Erfolgen so sichtbar zum Ausdruck kommt, und bemühen wir uns gleichzeitig in diesen Tagen, in ernsten arbeitsreichen Stunden uns neue Kraft, neuen kämpferischen Lebensmut für die Aufgaben zu holen, die vor uns stehen und gelöst werden müssen, weil es der Führer will.
...
Unser Kreistag soll Dich aufrütteln, soll ein flammender Appell an Dich sein! Es genügt nicht, dass Du in betonter Treue hinter dem Führer und der Bewegung stehst: Die Bewegung arbeitet und baut auf, unermüdlich und mit aller Kraft. Wir marschieren und vor uns trägt Adolf Hitler die Fahne! Wir marschieren in eine starke und stolze Zukunft unseres Volkes! Nimm den Marschschritt auf, richte Dich aus, arbeite mit für Adolf Hitler, für Deutschland!"

b) Der Lüdenscheider Generalanzeiger am 19.10.1937:

"Sieben Millionen Besucher hatte (die Düsseldorfer Ausstellung) "Schaffendes Volk" zu verzeichnen, von ihnen waren rund 350.000 Ausländer, Angehörige aller Länder der Erde, die hier Gelegenheit hatten zu sehen, was das neue Deutschland zu leisten imstande ist. Es gibt wohl keinen Ausländer, der nicht von dem, was er hier zu Gesicht bekam, tief beeinflußt gewesen wäre. Jeder fühlte instinktiv, daß hier nicht mit Zahlen, Statistiken und langwierigen Tabellen gearbeitet worden ist, sondern daß es eben Sinn und Zweck dieser Ausstellung war, das deutsche Volk in seinem Schaffen und Arbeiten im Dienste des Friedens (Aufrüstung!, der Verfasser) zu zeigen."

c) Am 7.09.1937 berichtete der Lüd. Generalanzeiger über den Reichsparteitag:

"Das Geschenk der Stadt (Nürnberg): ein allegorisches Kunstwerk 'Sieg der Arbeit'":

Auf der Rückseite des Ehrenmals für die Gefallenen soll ...

"... eine monumentale Brunnenanlage geschaffen werden, in deren Mittelpunkt ein allegorisches Bildwerk von über 5 Metern den Sieg der Arbeit verkörpern soll."

Aus der Rede Adolf Hitlers auf dem "Parteitag der Arbeit" zitierte am 8.09.1937 der Lüdenscheider Generalanzeiger:

"Meine Arbeitsmänner, meine Arbeitsmaiden,
...
Es genügt nicht von einer Volksgemeinschaft zu träumen oder von ihr zu reden. Diese Gemeinschaft muss erkämpft und erarbeitet werden. Wie überall steht auch hier über dem Wort die Tat. Sie kann nicht aus einem bloßen Wunsch geboren werden, sondern der Wunsch muß sich verwandeln in einen Willen und der Wille muß sich umsetzen in eine Tat. Und eine der stolzesten Taten, die der Nationalsozialismus zur Wiederaufrichtung einer kommenden deutschen Volksgemeinschaft vollbracht hat, war die Gründung des Reichsarbeitsdienstes! (Stürmischer Beifall der Hundertausende) Dieser Parteitag steht im Zeichen der Arbeit. Das Werk, das sich in Euch uns vorstellt, ist auch ein Ergebnis unermüdlicher Arbeit. Euer erster Arbeiter, meine Kameraden und Kameradinnen ist Euer Führer."

2. Die Pflicht zum Wehr- und Arbeitsdienst

In der Zeitschrift "Arbeitertum" der Deutschen Arbeitsfront vom 1. Oktober 1939 wird die Bedeutung der Arbeiter für den Nationalsozialismus deutlich:

"Die Vorstufe für die Volksgemeinschaft ist die Kameradschaft in den deutschen Betrieben und Werkstätten, bei der Arbeit und im Alltag. Während Millionen im feldgrauen Rock unsere Grenzen hüten und den Angriff der Feinde (!, Angriff auf Polen, der Verf.) abwehren, müssen Millionen im Arbeitsrock ihrer täglichen Arbeit nachgehen und dabei Leistungen vollbringen, die im Umfang, in der Größe und Bedeutung denen der feldgrauen Front nicht nachstehen. Den Soldaten der Wehrmacht befähigt die Kameradschaft zum höchsten Opfer. Auch der Soldat der Arbeit wird die höchster Leistung nur in fester Gemeinschaft vollbringen."

"Militarisierung der Arbeit" hat Dietmar Petzina die NS-Politik genannt, die jeden Arbeiter immer mehr in den Dienst der nationalsozialistischen Interessen an einem starken völkischen Staat und an einer starken Armee stellte.

Nationalsozialisten führten den 1.Mai 1933 als arbeitsfreien Tag der Arbeit ein und zerstörten die freien Gewerkschaften am 2. Mai. An die Stelle der freien Gewerkschaften traten die Deutsche Arbeitsfront und die Treuhänder der Arbeit. Sie organisierten den Arbeitsfrieden und die Arbeitsbedingungen im Sinne des NS-Staates. Arbeitern wurde das Selbstbestimmungsrecht genommen. Ca. 15 000 Gewerkschafter, Kommunisten und Sozialdemokraten, die sich gegen die Zwänge der Nationalsozialisten zur Wehr setzten, kamen bis 1945 ums Leben. Sie sahen in der Organisation der Arbeit den Weg zu einer leistungsstarken Volksgemeinschaft. Entsprechend hieß Artikel I des Reichsarbeitsdienstgesetzes vom 26.6.1935:

"Alle jungen Deutschen beiderlei Geschlechts sind verpflichtet, ihrem Volk im Reichsarbeitsdienst zu dienen. Der Reichsarbeitsdienst soll die deutsche Jugend im Geiste des Nationalsozialismus zur Volksgemeinschaft und zur wahren Arbeitsauffassung (...) erziehen."

Der Reichsarbeitsdienst wurde "Ehrendienst für das Volk" genannt, von dem Juden, Sinti, Roma u.a. ausgeschlossen waren. Im Oktober 1938 betrug die Zahl der Arbeitsdienstleistenden 275 000. Das Arbeitslager markierte ...

"... einen Punkt auf einem Kontinuum nationalsozialistischer Lagerpraxis, die von Lagern für die eigenen Eliten über solche für den gesellschaftlichen Nachwuchs, für ausländische Zwangsarbeiter bis hin zu konzentrations- und Vernichtungslagern reichte. Die Lager des Arbeitsdienstes bildeten zugleich eine neue Stufe der hoheitlichen Erfassung der Arbeitskraft im Nationalsozialismus (Sachße/Tennstedt, S. 80) Arbeit sollte der Erziehung zur nationalsozialistischen Gemeinschaft dienen. "Nur der arbeitende 'Volksgenosse' war wertvolles Mitglied der Volksgemeinschaft. Sein radikales Gegenbild war der 'arbeitsscheue Asoziale'. Er war 'gemeinschaftsfremd' und aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen. Er wurde zum Gegenstand eines hierarchisch gestuften Systems ausgrenzender Maßnahmen bis hin zur Vernichtung durch Arbeit."
(Quelle: Sachße/Tennstedt S. 81)

3. Arbeit, Gesundheit, Zwangssterilisation und Volksgemeinschaft

Die Not des 1. Weltkriegs endete nicht mit der Niederlage und dem Friedensvertrag von Versailles, sondern setzte sich in der mangelhaften Ernährung der Bevölkerung - besonders von Menschen in Landesklinken - und der Sorge um viele Schwerverletzte fort. Die große Zahl von Lüdenscheidern, die an Tuberkulose starben, beunruhigte die Verantwortlichen, die 1920 das städtische Gesundheitsamt gründeten, um die Gesundheit der Bevölkerung zu verbessern. Denn die große Zahl der Kranken belastete das wirtschaftliche und soziale Leben der Stadt. Sie folgte einem Trend der Gründung von Gesundheitsämtern in Deutschland zur Verbesserung der Gesundheit aus humanen, wirtschaftlichen und politischen Gründen. Im gleichen Jahr schrieb Kurt Weil, der damals das Theater im Hotel zur Post leitete, an seinen Bruder:

"Hier sterben so viele Leute, dass der Friedhof sie nicht fassen kann und die Gräber übereinander geschichtet werden. Soll denn der Krieg noch immer kein Ende haben? Und ist das nicht schlimmer als der Krieg?"

In der Weimarer Republik widmete sich das städtische Gesundheitsamt besonders der Gesundheit der Schulkinder und Maßnahmen gegen Epidemien.

Foto: Das Foto zeigt ein Haus.
Foto: Das Foto zeigt ein Haus. Im alten Lüdenscheider Gesundheitsamt wurden die Weichen für mehr als 209 Zwangssterilisationen gestellt.

 

Schon im 19. Jahrhundert hatte sich ein neues Denken und Handeln in allen Lebensbereichen Westeuropas verstärkt, dass mit dem Wort "Sozialdarwinismus" beschrieben wird und das "Recht des Stärkeren" auf Kosten des Schwächeren gegen die Vorstellung von "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" der Aufklärung durchsetzte.
Gleichzeitig wurde das Leben der Menschen von vielen Staatsregierungen immer mehr nationalen Interessen angepasst: strikte Schulpflicht, allgemeine Militärpflicht, Passzwang, (standes-) amtliche Eheschließung, amtliche Todesbescheinigung u.a. Gleichzeitig wuchs in den modernen Industriestaaten mit den Fortschritten der Medizin auch der Glaube, dass die Gesundheit der "Untertanen" staatlich gelenkt werden müsse. In Kirchen, Parteien und Wissenschaften - den großen Meinungsführern der Gesellschaft - verbreitete sich immer mehr der Gedanke, Menschen mit Behinderungen freiwillig oder sogar zwangsweise zu sterilisieren. Aus Achtung vor der Menschenwürde als Geschöpf Gottes hatte die katholische Amtskirche sich dagegen ausgesprochen. Da die NSDAP an dem Staatsvertrag mit dem Papst in Rom interessiert war, um das eigene internationale Ansehen zu verbessern, wurde das "Reichsgesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" erst nach dem Konkordat mit dem Papst verabschiedet. Das Gesetz vom 25.7.1933 lautet:

"§1
Wer erbkrank ist, kann durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden ...
§2
Antragsberechtigt ist derjenige, der unfruchtbar gemacht werden soll ..
§3
Die Unfruchtbarmachung können auch beantragen
1. der beamtete Arzt,
2. für Insassen einer Kranken-, Heil- und Pflegeanstalt oder einer Strafanstalt der Anstaltsleiter.
...
§5
Zuständig für die Entscheidung ist das Erbgesundheitsgericht, in dessen Bezirk der Unfruchtbarzumachende seinen allgemeinen Gerichtsstand hat."

Schulen, Polizei und alle andere staatliche Einrichtungen wurden zur Mitarbeit verpflichtet. Als der christlich eingestellte Lehrer Theophil Walter sich verweigerte, wurde er entlassen, wurden die evangelische und katholische Hilfsschule zusammengelegt, gaben die Pfarrer ihre Zustimmung und übernahm ein nationalsozialistischer Lehrer die Leitung der Gemeinschaftshilfsschule in Lüdenscheid. Mit dem Gesetz der Vereinheitlichung des Gesundheitswesens vom 3.7.1934 wurden die kommunalen Gesundheitsämter verstaatlicht.

Ihre neue Aufgabe bestand in der Anlage der Erbgesundheitskartei, in der Genehmigung des Ehestandsdarlehens und in der Erteilung der Eheerlaubnis, die manchmal verweigert wurde.

1934-1938 wurden in Lüdenscheid 209 Zwangssterilisationen vollzogen, die für eine Frau tödlich verlief und für alle eine lebenslängliche Belastung war. Die Forschung geht von der Annahme aus, dass ca. 350 000 Menschen zwangssterilisiert wurden. Damit und mit dem Eheverbot wurden die Selbstachtung, die Würde und die Gesundheit der Betroffenen zerstört. Die Eingriffe fanden in Lüdenscheid meistens im Krankenhaus statt.

Das Denken der Zeit spiegelt sich deutlich in dem Relief von 1940, das über dem Haupteingang des Krankenhausneubaus eingelassen wurde. Künstler: (wird nachgetragen)

Foto: Steinrelief: Ein Männerakt mit Schwert kämpft gegen eine mehrköpfige Schlange.
Foto: Steinrelief: Ein Männerakt mit Schwert kämpft gegen eine mehrköpfige Schlange.

 

Es zeigt das damalige Verständnis der Künstler und Mediziner von Krankheiten. Sie wurden - wie in der Frühzeit der Menschen - als Wesen - hier: Schlange - des Bösen angesehen, die mit dem Schwert zu bekämpfen sind. Kranksein wird nicht zeitweise oder dauerhaft als Teil des menschlichen Lebens verstanden, der dadurch zum Nachdenken und zur Verantwortung angehalten wird, sondern als böser Feind, gegen den die Medizin mit physischer Gewalt kämpfen muss. Der Patient gibt seine Krankheit dem Mediziner, der sie bekämpft. Die Aufgabe der Eigenverantwortung in der Medizin hatte ihr großes Vorbild in der Politik, der man die Verantwortung für alles überließ. Die Selbstentmündigung hatte mit dem Ermächtigungsgesetz des Reichstags am März 1933 begonnen und war in alle Lebensbereiche der Deutschen eingezogen. Die Mehrheit schaltete sich gleich und wurde gleichgeschaltet. Menschen sahen sich gegenüber ihrer Aufgabe und der NS-Regierung in der Verantwortung zur Pflichterfüllung, aber fragten sich seltener auch nach der eigenen Verantwortung. So konnten mächtige nationalsozialistische Denker und Politiker viel Unmenschliches mit der (Selbst-)Unterwerfung der Mehrheit anrichten.

Im Schulunterricht - z.B. in den Fächern Biologie, Mathematik und Deutsch - gab es Aufgaben und Lehren gegen die Achtung und das Lebensrecht von Menschen mit Behinderungen.
Das neue Denken wurde auch von den NS-Krankenschwestern/ Reichsschwestern vertreten, denen 1937 die Stadt die Leitung des Krankendienstes übertrug, der vorher von evangelischen Krankenschwestern geleistet wurde.
Mit dem Kriegsbeginn am 1.9.1939 gegen Polen wurde das Leben des Einzelnen entwertet, obwohl die Propaganda jeden zum Helden aufwertete. Wer sich dem Kampf verweigerte oder nicht an ihm teilnehmen konnte, wurde verachtet. Deshalb unterzeichnete Hitler im Oktober - zurückdatiert auf den 1.9.1939 (Kriegsbeginn) - den Euthanasieerlass:

"Reichsleiter Bohler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischer Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann."

Zuerst wurde der Mord an Patienten der Landesheilanstalten vorbereitet. Die für Lüdenscheid zuständige war in Warstein. Als die Ärzte und Ordensfrauen Hinweise über die geplante Deportation und Tötung eines Viertels aller Menschen mit Behinderungen im Deutschen Reich erhielten, schrieben sie viele hundert Briefe an deren Verwandte, ihre behinderten Familienmitglieder heimzuholen. Das gelang nur selten. So kamen viele auf den Weg in die Mordeinrichtung Hadamar und der zugeordneten Landesklinken. Dort wurden die meisten der 55 Lüdenscheiderinnen und Lüdenscheider Opfer der Euthanasie durch Hunger, tödliche Medikamente und Vergasung. Nach öffentlichem Protest - unter anderem den des Bischofs von Galen aus Münster und des evangelischen Pfarrers Ernst Wilm (1929-1931 in Lüdenscheid, ab 1931 Pfarrer in Mennighüffen) - wurde die Mordaktion offizielle eingestellt. 70.273 Menschen wurden nach amtlichen Angaben ermordet. Unter strenger Geheimhaltung wurde das Morden fortgesetzt, auch z.B. in den Heilanstalten Polens. Heutige Schätzungen gehen von mehr als 300.000 Getöteten aus.

So führte die Zerstörung der Würde und des Lebens der Menschen mit Behinderungen als "wertlose Menschenhülsen" über die Zwangssterilisationen zur Ermordung durch Gas. Das Wissen darüber, die Technik und die Fachleute wurden ab 1942 für die Ermordung der Juden in Europa verwendet.

In seiner "Euthanasiepredigt" vom 3.8.1941 sagte Bischof von Galen in Münster:

"Wenn einmal zugegeben wird, dass Menschen das Recht haben, 'unproduktive' Menschen zu töten, und wenn es jetzt zunächst auch nur arme, wehrlose Geisteskranke trifft, dann ist grundsätzlich der Mord an allen unproduktiven Menschen, also an den unheilbar Kranken, den arbeitsunfähigen Krüppeln, den invaliden der Arbeit und des Krieges, dann ist der Mord an uns allen, wenn wir alt und alterschwach und damit unproduktiv werden, freigegeben."

3 Schicksale:

Foto: Eine Stele mit dem gemeißelten Schriftug 'MENSCH ACHTE DEN MENSCHEN'. Auf der Stele liegen kleine Steine.
'MENSCH
ACHTE DEN
MENSCHEN'
steht auf einer Gedenkstele auf dem Friedhof der Gedenkstätte in Hadamar.
Dort sind die meisten Lüdenscheider im Rahmen der Euthanasieaktion ermordet worden.

 

1. Fritz Schulte:

Fritz Schulte wohnte in Oberbrügge, Haus Volmestraße 34. Es gehörte zur Gemeinde Kierspe. Deshalb steht Fritz Schulte auch nicht im Verzeichnis der 55 Lüdenscheider Todesopfer.

Fritz Schulte war am 6.3.1906 in Schalksmühle geboren worden und hatte nach dem Schulbesuch die Schreinerlehre mit Erfolg abgeschlossen. Als Modellbauer war er bei der Firma Steinbach in Oberbrügge berufstätig. Mit seiner Frau Maria, geb. Schmitten, hatte er zwei gesunde Kinder, die 1933 und 1936 geboren wurden. Seit seinem 17. Lebensjahr litt er zeitweise unter Epilepsie. Sie zeigte sich in vereinzelten Tobsuchtsanfällen, bei denen oft Sachen (z.B. Fenster) zu Bruch gingen. Deshalb wurde er vom Gesundheitsamt gezwungen sich sterilisieren zu lassen, weil die Gesundheitspolitik der Nationalsozialisten das vorschrieb.

Dass Epilepsie nur zum Teil vererbt wird, leugneten die verantwortlichen Ärzte und Politiker damals, weil sie an die genetische Bestimmung des Menschen und an die Rassenhygiene glaubten. An der Stelle begann die tödliche Entwicklung.

Wegen der rassistischen Vorurteile wurden die russischen Zwangsarbeiter der Firma Steinbach schlecht behandelt - zunächst in den Kellerräumen an der Volme und später in dem Barackenlager an der Völmecke, das mit Stacheldraht umzäunt war. Herr Schulte ergriff Partei für die Kriegsopfer und kam in Konflikt mit Uniformierten. Die Aufregung endete in Handgreiflichkeiten. Schon vorher hatten die Extrembelastungen der Kriegszeit zur Verschlimmerung der epileptischen Erkrankung beigetragen. In der Hoffnung auf die Möglichkeit, die Krankheit zu heilen, wurde er am 12. Januar 1943 in die Provinzialheilanstalt Warstein eingewiesen.

Trotz der Bitten der Familie um die Heimkehr entschied der Medizinalrat in Warstein, dass Fritz Schulte noch weiter der "Pflege und Behandlung in einer geschlossenen Anstalt" bedürfe. Er erhielt von seiner Familie in regelmäßigen Abständen Briefe und kleine Pakete mit Tabak, Zigaretten, Kuchen, Apfelsinen u.a..

Aus unbekannten Gründen wurde Fritz Schulte am 26.7.1943 nach Weilmünster verlegt, das als Zwischenanstalt der Euthanasieanstalt Hadamar diente. Daraufhin stellte Frau Schulte an die Anstalt Bethel im Januar 1944 den Antrag, ihren Mann aufzunehmen und aus Weilmünster abzuholen.

Der Vorstand von Bethel wandte sich schriftlich an die Heil- und Pflegeanstalt Weilmünster, die das Ersuchen ablehnte.
Die Patienten in Weilmünster wurden kaum noch gepflegt und erhielten sehr wenig Nahrung.
Nur diejenigen, die zur Mitarbeit herangezogen wurden, bekamen mehr Nahrung und hatten bessere Chancen, nicht nach Hadamar - also in den Tod - überwiesen zu werden.
Am 29. September 1944 erhielt Frau Schulte die folgende Nachricht:

"Durch Räumung der Landesheilanstalt Weilmünster für Lazarettzwecke wurde Ihr Ehemann, Herr Friedrich Schulte, in die hiesige Anstalt verlegt. Besuche können infolge der schwierigen Verkehrsverhältnisse nur in besonders dringenden Fällen gestattet werden.
Wir bitten jedoch zuvor die Genehmigung der Anstaltsleitung einzuholen. Zur Vervollständigung der Aufnahmeakten benötigen wir dringend eine Heiratsurkunde, um deren baldmöglichste Übersendung Sie besorgt sein wollen. Verw. Inspektor"

Ein Monat später lautete die Nachricht:

"Ihr Mann wird immer stumpfer. Die Anfälle treten nach wie vor auf. Eine Besserung des Zustands steht nicht mehr zu ewarten. Der Chefarzt. Prof(!) Obermedizinalrat"

Eine Besserung konnte nun auch nicht mehr eintreten, da die Ernährung so gering war, dass die Menschen verhungerten und mit Medikamenten getötet werden konnten.

Mit dem Datum vom 15. November 1944 erhielt Frau Schulte folgenden Brief:

"Bei Ihrem Ehemann treten die Anfälle seit gestern ununterbrochen auf. Die(!) Kranke ist benommen. Da Herzschwäche besteht, ist Lebensgefahr nicht ausgeschlossen. Besuch ist gestattet. Der Chefarzt Prov.(!) Obermedizinrat"

Da die Nachrichten von Hadamar über die Sterbenden und Toten nie der Wahrheit entsprachen und 61 vorformulierte Texte für die Benachrichtigung der Angehörigen zur Verfügung standen, lässt sich nur vermuten, dass Herr Fritz Schulte wie die anderen an Hunger und einer tödlichen Medikamentendosis gestorben ist, bzw. so ermordet wurde.

2. Luise H. ...

... wurde 1914 in Leverkusen-Küppersteg geboren und in der kath. St. Stephanuskirche zu Bürrig getauft. Die Familie zog nach Weisweiler, das heute zur Stadt Eschweiler gehört. Dort besuchte Luise 1920-1928 erfolgreich die Volksschule.

Luises Mutter war gewähltes Mitglied des Schulbeirats für die christlichen Kinder. Diese Schuldokumente sind die einzigen, da die Stadt Weisweiler wegen ihrer großen Bedeutung für die Gewinnung von Elektrizität aus Braunkohle, im 2. Weltkrieg stark zerstört und Dokumente weitgehend vernichtet wurden.

Hier war Luises Vater als Lokführer tätig. In der Weltwirtschaftskrise und danach arbeitete Luise als Hauswirtschafterin. 1940 kam sie in dieser Tätigkeit zu einem Lüdenscheider Geschäftsbesitzer. Im Konflikt mit ihm ließ er sie 1942 von der Polizei verhaften. Sie wurde in die Landesklinik Warstein geschickt und zwangsweise sterilisiert. 1943 wurde sie nach Weilmünster bei Hadamar geschickt, wo sie im Februar 1945 ums Leben gebracht wurde.

3. Marianne D. ...

Foto: Das Foto zeigt eine 19jährige schlanke, junge Frau mit langen schwarzen Haaren im Profil.
Das Foto von Marianne D. wurde in der Landesklinik Warstein für die Krankenakte angefertigt.
Auf dem Foto ist sie 19 Jahre alt.
1943 wurde Marianne D. mit ihrer Akte nach Hadamar in den Tod geschickt.

 

... war 1920 in Lüdenscheid geboren und in der evangelischen Christuskirche getauft worden.
Nach dem 4. Schuljahr an der Knapperschule besuchte sie bis zur 9. Klasse das Mädchenlyceum mit guten Leistungen. Damals kam es kaum vor, dass Mädchen, die nicht aus Oberschichtfamilien stammten, die Oberstufe besuchten. Sie wurde Fremdsprachenstenographin, ein anspruchsvoller Beruf. Wegen ihrer Hasenscharte wurde sie im Herbst 1939 operiert. Seitdem (auch Kriegsbeginn) litt sie an Traumata und wurde in der Hoffnung auf Heilung von ihren Eltern in die Landesklinik Warstein gebracht. Sie ordnete ihre Zwangssterilisation an.

Als sie im April 1942 entlassen wurde, schrieb sie zahlreiche Briefe an Behörden. Die sahen sich belästigt und forderten vom Gesundheitsamt die Zwangseinweisung. Der widersprachen die Eltern.
Der Amtsarzt stufte sie am 25.2.1943 als "gemeingefährlich" ein, was zur Festnahme durch die Polizei führte. Von Lüdenscheid wurde sie in die Landesklinik Warstein gebracht und am 14. September nach Hadamar.

Am 15. September 1943 meldete die Landesheilanstalt Hadamar den Tod der 23jährigen Lüdenscheiderin, angeblich durch Grippe.

Die Ermordung von Menschen mit Behinderungen erfolgte in der Regel nach der Entscheidung in den Landeskliniken, ob jemand als arbeitsfähig eingestuft wurde oder nicht. So wurde die Arbeitsfähigkeit zum Maßstab für das Lebensrecht der Menschen, über die nationalsozialistische Menschen das Urteil der "fehlenden Existenzberechtigung" sprachen.

Quellen:

Archive:
- Stadtarchiv Lüdenscheid
- Kreisarchiv Altena
- Staatsarchiv Münster
- Archiv der Gedenkstätte Hadamar

Literatur:
- Ernst Klee, Verschiedene Werke
-Lüdenscheider Gedenkbuch der Opfer des Nationalsozialismus, Hrsg.: Arbeitskreis Lüdenscheid der Gesellschaft für Christlich-jüdische Zusammenarbeit, Bündnis für Toleranz, Friedensgruppe, 2. Aufl. 2007
- Hans-Walter Schmuhl: Rassenhygiene; Nationalsozialismus, Euthanasie; 2. Aufl. Göttingen 1992
- Bernd Walter: Psychiatrie und Gesellschaft in der Moderne – Geisteskrankenfürsorge in der Provinz Westfalen zwischen Kaiserreich und NS-Regime; Paderborn 1996
- Interviews mit Angehörigen

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1938 Ausschluss der Minderheit der Juden und Sinti/ Roma aus der Lüdenscheider Gesellschaft - Pogromnacht

- Die Verfolgung, Diskriminierung und Enteignung der jüdischen Minderheit


Bis 1985 standen die beiden Gebäude nebeneinander: links der 'Jägerhof', rechts: bis 1936 das Zentralgebäude der Lüdenscheider Konsumgenossenschaft,
ab 1937: Stadthaus Lüdenscheid. Im 'Jägerhof' trafen sich 1901 bis 1936 die jüdischen Lüdenscheider zum Gebet und zur Geselligkeit.

Im Dezember 1922 war die Israelitische Gemeinde Lüdenscheid gegründet worden. Seit 1901 hatten sich die jüdischen Lüdenscheider auf der 1. Etage des "Jägerhofs", zwischen Louisen und Corneliusstr, (heute: Lichthof der Stadtbücherei) getroffen oder waren zum Sabbat in die Synagoge von Altena gereist. In der Weimarer Republik stieg die Zahl der Gemeindemitglieder auf ca. 140 und sank bis 1933 auf 114 (Einwohnerzahl 35.000).
Die vollständige rechtliche Gleichstellung und die wirtschaftlichen Erfolge großer jüdischer Filialgeschäfte - z.B. Tietz, ab 1933 Kaufhof - ließen auch in national gesinnten Lüdenscheidern Abneigung und Antisemitismus wachsen. So kam es zu lokalen Boykottaufrufen auf Plakaten und Gerichtsverfahren.
Schon am 9.9.1930 meldete der Lüdenscheider Generalanzeiger, dass Kinder mit den Rufen "Juda verrecke" und "Heil Hitler" durch die Straßen liefen. Nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler wurde von der SA am 1.April 1933 der erste staatliche Boykott deutschlandweit durchgeführt. SA-Männer standen vor allen Geschäften jüdischer Besitzer und forderten die Kunden auf, nicht einzutreten und in nichtjüdischen Geschäften zu kaufen. Mehr als 2.000 Gesetze und Erlasse wurden von der Regierung in Berlin bis 1945 gegen Juden formuliert und verwirklicht.

"Nach dem Machtantritt 1933 erlitt ich sofort schwere Verfolgungsmassnahmen. Der Vermieter meiner Geschäftsräume Wilhelmstr. 46 kündigte mir Anfang Mai 1933 mit 3monatiger Frist. Ebenso wurde mir meine Wohnung in der Poststr. 3 (heute: Rathausplatz) gekündigt, da die Nazigewerkschaft das Haus übernahm. Ich musste ein kleines Geschäftslokal in einer Seitenstrasse (Hochstr. 3) mieten und habe meine Ware ausverkauft. Mir wurde jedoch nur eine Frist von 2-3 Wochen zum Ausverkauf bewilligt, sodass ich die Ware weit unter Preis verschleudern musste. Zum Schluss blieben mir noch etwa 1.000 Paar Schuhe, die ich zum Preis von 2 RM pro Paar losgeschlagen habe. Vor dem 1.April 1933 betrug mein Warenlager ungefähr 10.000 Paar Schuhe. Da mir die Verfolgung bereits mein Geschäft und die Quelle meiner Existenz genommen hatte, entschloss ich mich mit meinem Mann zur Auswanderung. Im Oktober 1934 wanderten wir nach Palästina aus."1

I. Kaufhaus Alsberg

Die jüdischen Inhaber des Kaufhauses Alsberg, Altenaer Str./ Wilhelmstr. (Albert Lewin und Alfred Grünwald) mussten wegen wirtschaftlicher und persönlicher Schwierigkeiten ihr Geschäft aufgeben. Der Sohn Hans Lewin schrieb am 8.9.1946:

"Mein Vater, Albert Lewin, wurde in Falkenburg (Deutschland) geboren und starb 59 Jahre später in Lüdenscheid/Westfalen (Deutschland) (Tag seines Ablebens: 10.Februar 1935). Mein Vater war Teilhaber der Firma Gebr. Alsberg, die später in Krause umbenannt wurde und ein Fachgeschäft in Lüdenscheid war. In 1934 wurde ihm mitgeteilt, dass er entweder seine Geschäftsanteile zu dem lächerlichen Preis von R.M. 20.000 verkaufen könnte, oder aber er würde hinausgetan ohne irgend etwas zu erhalten. Er wählte den ersten Weg und erhielt R.M. 20.000. Darauf eröffnete er ein Geschäft in unserer Wohnung, doch einige Monate später starb er. Er hinterliess meiner Mutter, meiner Schwester und mir als Erben das, was von seinem Vermögen übrig geblieben war. In 1936 ging ich nach den Vereinigten Staaten, und meine Mutter und meine Schwester führten das Geschäft weiter. Sie betreiben es noch ungefähr ein Jahr lang und waren dann gezwungen auszuverkaufen.
...
Die Nazi-Partei setzte den Preis für unser Haus fest, und wir konnten es nicht für mehr verkaufen als R.M. 50.000. Das aus diesem Verkauf stammende Geld wurde uns auch genommen für sogenannte Steuern. So erhielten wir tatsächlich nur R.M. 3.000 für unser Haus. In beiden Fällen wurde der Verkauf unter Zwang gemacht. ... Der Wert des Geschäftes war zur Zeit des Verkaufs wie folgt: Lagerbestand R.M. 750.000, Geld das uns aus Rechnungen geschuldet wurde 400.000 R.M. Das Gebäude des Geschäfts wurde niemals durch meinen Vater oder irgendein Familien-Mitglied verkauft und war auf ungefähr 1 250.000 R.M. geschätzt worden. Unsere Wohnung war auf ungefähr 110.000 R.M. geschätzt worden. Das Geschäftseigentum befand sich an der Ecke Wilhelmstrasse und Sauerfelderstrasse in Lüdenscheid; unsere Wohnung befand sich in Lüdenscheid, Paulinenstrasse 7. Wir verloren auch einen grösseren Geldbetrag bei den Lüdenscheider Banken."2

Die Sicht wurde durch das Urteil des Landgerichts Hagen 1950 relativiert:

"Die damaligen Gesellschafter der Firma Gebrüder Alsberg, Albert Lewin und Otto Eichengrün, standen nicht in gutem Einvernehmen. Die Grossgläubigerin der Firma Gebrüder Alsberg, die Firma Fried und Alsberg G.m.b.H., Köln, mit deren Inhaber Eichengrün verwandt war, forderte das Ausscheiden Albert Lewins aus der Firma ... Selbst wenn der Antragsgegner(Eichengrün), oder die Firma Fried und Alsberg als Grossgläubigerin der Firma Gebrüder Alsberg damit gedroht haben sollte, die Hilfe von Parteiinstanzen in Anspruch zu nehmen, falls Lewin nicht zum Abschluss des Vertrages bereit sein sollte, so wären die in derartigen Drohungen möglicherweise zu erblickenden Verfolgungsmassnahmen nicht aus Gründen der politischen Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus erfolgt, sondern zur Unterstützung der Antragsgegners Eichengrün."3

Ab 1934 hatte die Firma Krause das Geschäft gepachtet. Otto Eichgrün zog 1935 nach Witten und 1938 nach London. Sein Grundstück wurde deshalb nach dem Reichsbürgergesetz vom 25.11.1941 vom Deutschen Reich eingezogen. Die Bundesrepublik musste nach dem Gerichtsurteil des Landesgerichts Hagen 1950 das Grundstück an Eichengrün zurückgeben.

II. Familie Vollmann

Frau Selma Vollmann schrieb 1955:

"Das am 15.9.1935 infolge rassistischer Verfolgung beendete Anstellungsverhältnis in dem Feinkostgeschäft des Herrn Sigismund Noach, Lüdenscheid, Wilhelmstr. 51, ging bereits auf März 1923 zurück. Ich war s.Zt. noch ledig und bekam außer Gehalt noch Kost und Logis. Nachdem ich am 12.6.1932 heiratete, bezog ich mit meinem Mann wohl eine eigene Wohnung, ich wurde aber auch weiterhin im Hause Noach vollständig verpflegt"

Ihr christlicher Ehemann Wilhelm Vollmann berichtete weiter:

"Ungefähr ab 1935 unterlag ich durch meine jüdische Frau der ständigen Beobachtung der Gestapo. Meiner Frau war der Besuch eines Lokals, Kinos oder einer Veranstaltung verboten und (sie) durfte nach 9 Uhr abends die Strasse nicht mehr betreten. Im Jahre 1938 wurde mir ohne weiteres durch 2 Gestapo-Beamte mein Radio-Gerät aus der Wohnung geholt. Am 14.10.44 wurde ich dann Morgens um 6 Uhr auf Veranlassung der Gestapo aus meiner Wohnung geholt und über das Russenlager in Haspe und ein Lager in Soest nach Kassel-Bettenhausen gebracht."

In der Wiedergutmachungsakte steht dazu:

"Vollmann wurde, da er an der Ehe mit seiner volljüdischen Frau festhielt, am 14.10.44 von der Gestapo verhaftet und bis zur Befreiung am 1.4.45 in Kassel-Bettenhausen (Zwangsarbeitslager) untergebracht."4

III. Textilgeschäft Lebenberg

Foto: Das Textilgeschäft Lebenberg. in der Knapper Str.
Die Knapperstr. in den 1930er Jahren: Das Textilgeschäft Lebenberg.
Heute befindet sich dort die Filiale der Commerzbank.

 

Nachdem die jüdischen Geschäftsleute das Textilhaus Alsberg und das Kaufhaus Tietz 1933 aufgeben mussten, war das Textilgeschäft Lebenberg an der Knapperstr. 7 (an der Südseite des damaligen Adolf-Hilter-Platzes, heute: Rathausplatz) das größte und beliebte Textilgeschäft in Lüdenscheid. Eigentümerin war Frau Irmgard Cahn. Ihre Buchhalterin berichtete 1949:

"Am 9.November 1938 wurden die Schaufenster des Hauses zerstoert. Die Gestapo schloss das Geschaeft. Die Inhaber und das Personal durften es nicht mehr betreten. Die Polizei nahm die Schlüssel zum Geschäft an sich. Der Inhaber Oscar Cahn wurde in das K.Z. Oranienburg geschafft. Ich war als Angestellte des Geschäftes 'mit voller Station' angestellt und lebte daher in dem Haushalt der Eheleute Cahn. Nach der Verbringung des Herrn Cahn in das K.Z. wurde Frau Imrgard Cahn vor die Gestapo geladen. Sie kam zurueck mit der Nachricht, ein Beamter habe ihr eroeffnet, dass kein Textilwarengeschaeft in dem Hause mehr geduldet wuerde, und dass das Haus der 'Partei' zum Verkauf ueberlassen werden muesse. Wenn Frau Cahn das tue, habe sie die Chance, ihren Mann aus dem Lager zurueckzubekommen. Sonst nicht. Frau Cahn hat daraufhin mit mir und einem Mieter im Hause beraten. Wir waren mit Frau Cahn der Ansicht, dass ihr nichts anderes uebrig bleibe als zuzustimmen, wenn sie ihren Mann freibekommen wolle. Spaeter erschienen mehrere Beamte der Arbeitsfront in Uniform. Ich durfte in dem Zimmer, wo verhandelt wurde, nicht zugegen sein, erfuhr aber unmittelbar im Anschluss daran immer alle Einzelheiten. Nach Frau Cahn's Bericht hatten die uniformierten Beamten dasselbe erklaert wie der oben erwaehnte Beamte der Gestapo und ferner, dass sie ihr einen Kaeufer stellen wuerden. Nicht lange darauf erschienen die uniformierten Leute wieder und brachten einen Mann mit, der der Frau Cahn als der Wirt Rueb aus Hagen und als Kaeufer vorgestellt wurde. Frau Cahn berichtete auch ueber den von der Arbeitsfront festgelegten Preis fuer das Haus und Inventar, gegen den sie keinen Widerspruch erheben konnte."5

Nach dem Krieg musste der Rechtsanwalt von Frau Cahn die Rückerstattung einklagen, weil die rechtswidrige Enteignung nicht durch Einsicht korrigiert wurde. Er schrieb 1951 an das Landgericht Hagen:

"Dem AG (Angeklagten), der Dortmunder Union Brauerei und der Stadtverwaltung Lüdenscheid, ist vor dem Einzug der neuen Pächter und Mieter von dem Unterzeichneten ausdrücklich bekanntgegeben worden, dass das Haus rückerstattungspflichtig sei und von der Ast. (Antragstellerin) als Eigentümerin nach der Restitution unverzüglich wieder für die alten Zwecke verwendet werden würde. Der Neueinrichtung eines Restaurant- und Cafebetriebes mit neuen Investitionen ist ausdrücklich widersprochen worden. Sowohl der AG wie die Dortmunder Union Brauerei und endlich die Stadtverwaltung Lüdenscheid haben sich darüber durch neue Konzessionserteilung einfach hinweggesetzt."6

1939 richtete die Stadt zusammen mit dem Wirt dort die Gaststätte "Ritter am Markt" als Offizierscasino ein. Der Name dokumentiert den Zeitgeist der psychologischen Kriegsvorbereitung.

IV. Familie Ripp

Foto:
Parade der Wehrmacht durch die Knapper Str., im Hintergrund das Bekleidungsgeschäft Jul. Ripp.

 

Sehr schwer war schon 1938 das Schicksal der Familie Ripp. Frau Ripp berichtete am 11.2.1957:

"Wir haben bis Oktober 1938 in Lüdenscheid gewohnt. Mein Mann ist im Oktober 1938 als polnischer Staatsbürger verhaftet und an die polnische Grenze gebracht worden. Ich hatte am 20. Okt. 1938 im jüdischen Krankenhaus Köln-Ehrenfeld unseren Sohn Uriel geboren und bin deshalb von der Abschiebung verschont geblieben. Ende Mai 1939 wurde ich dann ausgewiesen und bin mit meinem damals kaum 7 Monate alten Sohn über die grüne Grenze gegangen. In Antwerpen bin ich mit meinem Mann zusammengetroffen und habe dann mit ihm zusammen bis zum Herbst 1944 versteckt gelebt. Ich war am 7. Oktober 1942 bei einer Razzia verhaftet worden und wurde in das Lager nach Mecheln gebracht. Am 20. Okt. 42 befand ich mich auf dem Transport von Mecheln nach dem Osten; um dem sicheren Tod zu entgehen, bin ich, nachdem der Zug sich in Bewegung gesetzt hatte, aus dem fahrenden Zug (hin-)ausgesprungen und davon gelaufen. Ich bin zu meinem Manne nach Brüssel zurückgekommen und habe von dieser Zeit an bis zu(m) September 1944 den Keller in dem Hause Rue Masiu nicht verlassen. Unser Sohn Uriel war in einem Hause uns gegenüberliegend bei einer arischen Familie versteckt; am 11.Mai 1944 ist er bei einem Bombardement von Brüssel-Schärbeck getötet worden."7

Über die Flucht nach Belgien berichtete Lina Ripp:

"In Köln fand ich durch Vermittlung einen Grenzgänger, der gegen Bezahlung von RM 1.200 mein Baby und mich per Bahn nach Aachen brachte. Der Grenzgänger sass in einem anderen Waggon, und als wir in Aachen den Zug verliessen, brachte er uns per Strassenbahn nach dem Ausgang der Stadt. Wir setzten im Schutze der Nacht den Marsch zu Fuss fort. Ich hatte das Kind auf dem Arm. In einem Wald trafen wir einen zweiten Mann, der, nachdem die Wege durch den Wald schon unsicher zu passieren waren, uns durch das Dickicht des Waldes geleitete."8

Der Leiter der Polizei in Lüdenscheid schrieb 1955:

"Ripp hat bis etwa Mitte 1938 ein Einzelhandelsgeschäft (Textilien) in Lüdenscheid, Knapper Str. 17, betrieben. Nach Angaben der Hauseigentümerin ist der Mietvertrag im gegenseitigen Einverständnis deshalb gelöst worden, weil ein naher Verwandter des Hauseigentümers Leiter der 'Technischen Nothilfe' von Lüdenscheid gewesen sei und man es in den damaligen NS-Kreisen für untragbar hielt, einen Juden als Ladenmieter zu haben.
...
Nach Aufgabe dieses Ladens eröffnete Ripp ein Einzelhandelsgeschäft in Textilien in Lüdenscheid, Knapper Str. 8.
...
In der sogen. Kristallnacht im November 1938 sind Ripp 4 Fensterscheiben des Ladens eingeworfen worden."9

V. Familie Kletter

Jakob Kletter war 1879 in Kolumea/heute: Ukraine, damals: Polen (von Österreich-Ungarn besetzt) geboren. Wegen der wirtschaftlichen Not kam er nach Deutschland und heiratete in Lüdenscheid die Christin Ottilie Kletter. Sie gebar 1924 ihre Tochter Brunhilde. Die Eltern führten einen Textilhandel zunächst in der Kluser Str. und später an der Wilhelmstr. 35. Nach den judenfeindlichen Aktionen der SA zogen sie sich zurück und Jakob Kletter war als Fotograf tätig. Im Oktober 1938 wurde er verhaftet und nach Polen abgeschoben. Seine Frau und seine Tochter folgten ihm in seine Geburtsstadt Kolumea. Dort wurde Jakob ins Ghetto eingewiesen. Als dessen Einwohner 1942 in den Tod deportiert wurden, wurde Jakob Kletter ermordet. Gegen die Bedenken der Stadtverwaltung konnten seine Frau und ihre Tochter nach Lüdenscheid zurückkehren.

VI. Familie Meier10

Der Rechtsanwalt der Familie Meier schrieb an den Oberfinanzpräsidenten von Westfalen am 6.11.1939:

"Die Differenz zwischen dem damaligen und dem heutigen Vermögen rührt einmal ... (von dem Werteverfall) und zum anderen daher, dass der Antragsteller mit seiner Familie, bestehend aus seiner kranken Ehefrau, 2 Söhnen, der Schwiegertochter und der Hausangestellten, davon den gesamten Lebensunterhalt bestreiten mußte. Seit 1 Jahr hat der Antragsteller keine Einkommen mehr gehabt. Er ist jetzt seit dem 10. Oktober 1939 als Hilfsarbeiter tätig. Von dem Vermögen war ferner die Judenvermögensabgabe zu zahlen. Außerdem hatte der Antragsteller ganz erhebliche Kosten durch die Krankheit seiner Ehefrau, die 7 Monate wegen einer schweren Nervenentzündung in ärztlicher Behandlung war. Schließlich haben auch die Auswanderungsvorbereitungen, die unmittelbar vor dem Abschluß standen und nur durch den Krieg zunächst unterbrochen sind, erhebliche Summen verschlungen. Das gesamte Barvermögen des Antragstellers und seiner Ehefrau zusammen beläuft sich auf 5.000,--RmK. Davon aber die weitere Rate der Judenvermögensabgabe zu zahlen, ist dem Antragsteller völlig unmöglich, zumal der Antragsteller verpflichtet ist, davon bis zu seiner und seiner Familie Auswanderung, deren Zeitpunkt im Augenblick ja gar nicht abzusehen ist, den gesamten Lebensunterhalt, der sich einschließlich aller Abgaben auf monatlich ca. 775, -- RmK für 6 Personen beläuft, und auch noch die Kosten der Auswanderung zu bestreiten."11

VII. Familie Lennhoff

1939 'kaufte' die Stadt das Haus Wilhelmstr. 45 von der Familie Lennhoff und gab es Emil Deitenbeck, der sein Haus Wilhelmstr. 41 an die Stadt abtreten musste.11 1959 hatte die Stadt für die unzureichende Bezahlung 54.000 RM als Rückerstattung zu zahlen.

VIII. Familie Koopmann

Foto: Blick auf die Häuser der Wilhelmstr. 40-36.
Die Häuser der Wilhelmstr. 40-36. Ganz rechts das Schuhgeschäft Koopmann.

 

"Die Familie H. und die übrigen Hausmieter wollten nicht mehr länger von Juden mieten. Die ständigen Bedrohungen seitens der NSDAP und ihrer Gliederungen (SA, SS, DAF, SD u.a.) gegenüber den Juden sind feststehende Tatsachen. Erinnert sei auch noch an die Boykottmaßnahmen gegenüber den Juden. Sollte es vergessen worden sein, dass auch vor dem Hause Koopmann Boykottposten aufgestellt waren? Aus Vorgesagtem ergibt sich einwandfrei, dass der Verkauf vom 1.10.1935 nur aufgrund der fortgesetzten Drohungen durch die NSDAP und ihrer Gliederungen erfolgte."13
"Der Behauptung, der Kaufpreis war ... sehr hoch, ist entgegenzuhalten, dass das Haus in erstklassigem Zustand war und in der besten Geschäftslage der Stadt liegt. Hierzu erklärt sich auch, dass bei dem Verkauf im Jahre 1941 (H. an Dickhagen) von H. ein Kaufpreis von 114.000 RM erzielt wurde. Auf Grund des Unterschiedsbetrages zwischen Erwerbspreis (91.000 RM) und Verkaufspreis (s.o.) ist zu folgern, dass der Kauf Koopmann - H. unter dem wirklichen Preis geschlossen worden ist."14
"Um nicht gesehen zu werden, erschienen H.s erst spät am Abend (bei Koopmann). Bei ihrem Besuch erklärten H.s, dass die NSDAP und ihre Dienststellen ihnen keine Aufträge erteilten, weil sie von Juden gemietet hätten (zur Miete wohnten), was insbesondere Herrn H. als Parteigenossen zum Vorwurf gemacht wurde. H.s meinten, es müsste irgendwie ein Ausgleich geschaffen werden, weil sie dringend auf die Aufträge angewiesen wären. Vom Hausverkauf war bei dieser Gelegenheit gar keine Rede, vorher ist hierüber auch nichts erwähnt worden. Einige Tage danach kamen H. wieder spät abends zu den Eltern des Antragstellers. Sie erwähnten, dass ihnen wiederum Aufträge verweigert worden seien. Auch könnten sie nicht das Schild 'Deutsches Geschäft' erhalten, das die NSDAP verteilen würde.
...
An diesem Abend sagte dann plötzlich Herr H., dass sie das Haus übernehmen wollten. Sie hätten allerdings kein Geld, aber eine freiwillige Abgabe würde besser sein als eine Unfreiwillige. Die Eltern des Antragstellers waren furchtbar aufgeregt und der Antragsteller, der bei dieser Besprechung zugegen war, sagte, wenn sie schon das Haus fortgeben müssten, dann dürfte es doch aber keineswegs erforderlich sein, es an H.s abzugeben.
...
In dieser Zeit ereignete sich folgendes: Etwa vier- bis fünfmal wurde abends bei den Eltern des Antragstellers angerufen. Ein Anruf war wie nachstehend:
"'Höre und hänge nicht ab! Gebt euern Laden und euer Haus ab und zieht in das gelobte Land! Vergeßt nicht das Lied, welches wir gestern Abend in der Wilhelmstraße sangen: 'Wenn das Judenblut vom Messer fließt'!'
Die übrigen Anrufe waren in ähnlicher Form gehalten.
...
An einem Sonntagabend kam nun Herr H. wiederum zu den Eltern des Antragstellers und sagte, dass er gewarnt worden sei, nicht mehr als 85.000 RM, höchstens jedoch 86.000 RM zu zahlen. Den hierbei für die Eltern des Antragstellers entstehenden Verlust hätten dieselben selbst zu tragen. Erst nachdem sich dieses alles ereignet hatte, erklärten sich die Eltern des Antragstellers schließlich zum Verkauf bereit."15

IX. Eheleute Levy

1938 mussten die Eheleute Ludwig Levy, Irma geb. Menkel ihr Haus verkaufen. Nach dem Krieg zahlte der Eigentümer eine Rückerstattung.16

X. Ehepaar A. und P. Kahn

Auch Adolf und Paula Kahn mussten 1938 ihr Eigentum Freiherr vom Stein Str. 4 verkaufen, für das ihnen nach eigenen Angaben vor 1945 nichts gezahlt wurde. Das ist möglich, da die Zahlungen an Juden ab 1938 staatlich kontrolliert und oft kassiert wurden. Der Klage des Sohnes folgte eine Rückerstattungszahlung über 5.000 DM vom neuen Besitzer.17

XI. Bekleidungsgeschäft Schwerin

Die Erklärung von Albers nach dem Krieg enthält Fehler, die die Glaubwürdigkeit in Frage stellen:

"Herr Max Schwerin bot mir im Oktober 1935 als Bevollmächtigter der Firma Hermann Schwerin sein Geschäft zum Verkauf an. Er erklärte mir, dass er aus Altersgründen, er war damals bereits über 70 Jahre alt, das Objekt veräussern wolle. Der Verkauf ist zu den handelsüblichen Bedingungen bei dem Notar Josef Raulf zu Lüdenscheid abgeschlossen worden. Die Kaufverpflichtungen wurden von der Firma Albers & Ehringhausen auf das Genaueste und pünktlich eingehalten. Max Schwerin kaufte sich mit dem Kaufgeld in eine Altersrente ein, ebenso seine Frau und seine Schwägerin Frau Lina Schwerin. Soweit mir bekannt, starb Frau (?) Max Schwerin bereits im Jahre 1937, Hermann (?) und Lina Schwerin 1938."18

- Die Reichspogromnacht in Lüdenscheid

 

Am Morgen des 10. Novembers fuhr ein Lkw mit SA-Leuten von auswärts, vermutlich von Bochum - der Gauhauptstadt Westfalen-Süd - über die Knapperstraße, wo die beiden Textilgeschäfte Lebenberg und Ripp besetzt und ausgeplündert wurden. Die Textilien lagen auf dem Adolf-Hitler Platz und wurden später von anderen Uniformierten (SS, Gestapo oder Polizei) bewacht. Die Pogromnacht war von Goebbels und der SA als so genannte Empörung des Volkes gegen die Ermordung eines deutschen Botschaftssekretärs durch einen jüdischen Deutschen in Paris organisiert worden.

Nach dem Krieg und der Flucht über Kuba in die USA schrieb Hermann Behrend seine Erlebnisse vom 10. Nov. 1938 auf:

"Auch ich wurde am Morgen des 10. Nov. um 6 Uhr von 2 Polizisten verhaftet. Die Beamten luden vor meinen Augen ihre Pistolen und machten mich darauf aufmerksam, daß sie bei einem etwaigen Fluchtversuch von der Waffe Gebrauch machen würden.

Unser Junge war Gott sei Dank in Köln; Frau Ripp, die Frau eines Polen (Knapperstr. 17), den man eine Woche vorher fortgebracht hatte, schlief bei uns. Die arme Frau war noch Wöchnerin, sie hatte 14 Tage vorher einem netten Jungen das Leben geschenkt. Meine liebe Else war ganz sprachlos, konnte nur die Worte herausbringen: 'Mir wird ganz schlecht!' Worauf die Polizisten erwiderten, weil wir hier sind, wird Ihnen schlecht?

Na, - ich entledigte mich aller Sachen, die ich in den Taschen hatte und ließ mich abführen. Man brachte mich zur Polizeistation, nahm mir Hut, Hosenträger und alles, was ich noch bei mir hatte, ab und steckte mich in eine Zelle im Keller. Hier traf ich Gesellschaft. Herr Oskar Cahn (Inh. des Lebenbergschen Geschäftes) und ein Herr Wolff aus Altena waren schon da und blieben mit mir in der Zelle. Die Behandlung während der Haft in Lüdenscheid war sehr gut und ordentlich, die Beamten vom Kommissar bis zum gewöhnlichen Schutzmann war sehr anständig.

Am darauffolgenden Tage wurden aus der ganzen Umgebung noch viele Glaubensgenossen eingeliefert. Wir waren jetzt wohl 50 Menschen. Nun wurden wir der reizenden Gestapo übergeben. Diese Sorte Mensch sind ein Kapitel für sich, und ich werde bestimmt später noch darauf zu sprechen kommen.Vom Kommissar der Gestapo wurde uns gesagt, daß wir nun eine Fahrt ins Blaue machen würden, wir uns nicht unterhalten dürften, sondern nur an den Namen Grünspan zu denken hätten. (Dies war der Name des Pariser Attentäters.) Was uns jetzt bevorstand, war mir vollständig unklar.

Unsere erste Etappe war das Gerichtsgefängnis Dortmund. Hier nahm man mir meine gute Uhr ab, die ich nie wiederbekommen habe. Die erste Nacht blieben wir hier, wir waren ca. 800 Juden, es war gerade Freitagabend. Am anderen Morgen wurden wir wie eine Schwerverbrechenbande, von starken bewaffneten SA- und SS-Leuten sowie Polizisten eskortiert, durch Dortmund geführt. Alle 5 Meter mußte ein Schild getragen werden mit der Aufschrift:

Wir sind Mörder von ... Wir sind Dreckjuden, sind Vaterlandsverräter und an allem Unglück schuld etc., etc. Schließlich landeten wir am Hauptbahnhof, wo wir nach Unbestimmt verladen wurden. Daß es in irgendein Konzentrationslager ging, war uns allen klar. Aber wohin, merkten wir erst hinter Hannover - via Berlin - also Sträflingslager Oranienburg!! Um 5 Uhr waren wir in Berlin, es wurde dunkel. Der Zug setzte sich langsam wieder in Bewegung und fuhr durch die dunkle Gegend, uns alle nichts Gutes ahnen lassend. - Es war stockdunkel, der Zug fuhr unheimlich langsam. Auf einmal wurden die Türen aufgerissen und eine Meute
B E S T I E N in SS- Uniform und Menschengestalt stürzte mit Knüppeln und anderen Schlagwerkzeugen mit dem Schrei in die Abteile "Seid ihr Mörderpack, Ihr Drecksäue, Judenpack, Ihr Schei...haufen usw. noch nicht draußen?"
Ein Massaker setzte ein, wie es entsetzliche nicht gedacht werden kann. Die armen Menschen lagen haufenweise vor Eisenbahnwagen und wurden mit Fußtritten und Knüppeln und sonstigen Gegenständen massakriert. Eine grausige Wirklichkeit. Als wir zu uns kamen, sahen wir nur Blendlaternen und aufgepflanzte Bajonette. Sonst kein Licht weit und breit. Das Hilfegeschrei der armen Juden war erschütternd, wir hatten die ersten Verwundeten und Toten. Dann ging es auf extra schlechten Wegen im Laufschritt durch die finstere Nacht zum Lager ca. 1/2 Stunde. Auf diesem Wege starben wieder Leute von uns, man hörte nur Hilferufe, wie Sch'ma jisroel u. andere Gebete und das entsetzliche Geschrei und Gezeter der bestialischen Wachmannschaften.

Dieser Marsch zum Lager war wohl das Entsetzlichste, was ein Mensch erleben kann, jede Sekunde mußte man gegenwärtig sein, von diesem Unmenschen totgeschlagen zu werden. Einige von den Unsrigen begingen aus Verzweiflung Selbstmord durch Öffnen der Pulsadern, andere bekamen Herzanfälle, es war grausig. Das ärgste Nachgefecht während des Weltkrieges war nicht so grauenhaft und entsetzlich wie dieser kurze Marsch. Es wurden nicht Menschen zu Hyänen, sondern Hyänen wurden wahnsinnig, besser irrsinnig sadistisch. In dieser halben Stunde fanden die ungläubigsten Juden sich im Gebet wieder, baten den lieben Gott um Hilfe. Punkt 7 Uhr kamen wir im KZ Sachsenhausen an. Wir wurden verlesen, und die Personalien eines jeden wurden genau notiert. Dann mußten wir stehen, stehen, stehen; man soll es nicht für möglich halten, bis zum anderen Nachmittag 4 Uhr. Also die ganze Nacht hindurch, reichlich 21 Stunden ohne Essen und Trinken, wir durften keine Bedürfnisanstalten benutzen. Gegen 4 Uhr nachmittags wurden wir zum Baden geführt, kahlgeschoren und eingekleidet. Die meisten, darunter auch ich, bekamen einen ganz dünnen Sträflingsanzug (gestreift), ein Hemd ohne Knöpfe und Ärmel, eine Art Strümpfe und ein Handtuch. Nun kamen wir total erschöpft in eine ungeheizte Baracke, die für 75 Personen gedacht war, zu 450 Mann.
...
Eines Morgens (einen Monat später) gegen 5 Uhr, an einem Freitag, kam eine Ordonanz in die Baracke. Alle schliefen noch. Er las die Namen der Leute vor, die sofort zu entlassen seien. Aus unserer Baracke waren es 21. Ich traute meinen Ohren nicht, als ich auch meinen Namen zu hören glaubte. Ich erkundigte mich bestimmt zehnmal, ob ich auch richtig gehört hätte. Als man mich von der Richtigkeit schließlich überzeugt hatte, bekam ich einen fürchterlichen Weinkrampf. Ich wußte in der Tat nicht, was mit mir los war, ich mußte immer weinen und war zu nichts zu gebrauchen. Endlich holte man mich, um mich rasieren und die Haare schneiden zu lassen. Dann habe ich alles verschenkt, was ich besaß, klaterige Wäsche und trockenes Brot. Erst als ich draußen auf diesem fürchterlichen Platz stand und vor der Kammerbaracke zum Empfang meiner eigenen Kleider angetreten war, die unglücklichen Augen der zurückbleibenden Brüder sah, kam mir mein Glück so recht erst zum Bewußtsein. Am Tage meiner Einlieferung in dieses Lager habe ich niemals daran geglaubt, jemals meine liebe Frau noch meinen Fritze wieder zu Gesicht zu bekommen. Der liebe Gott hatte meine täglichen Gebete erhört und mich gesund an Körper und Geist erhalten. Es war das beste, was ich den Meinen mitbringen konnte.Wir standen nun hoffentlich das letztemal ohne Essen und Trinken von morgens 7 Uhr bis abends 7 Uhr auf einem Flecken. Vor lauter innerer Aufregung verspürte keiner Hunger oder Durst. Während der Entlausung erklärte uns dann der Lagerkommandant, daß wir nicht wegen guter Führung etc. entlassen würden, sondern einzig und allein zu dem Grunde, so schnell wie irgend möglich mit unseren Familien das Deutsche Reichsgebiet zu verlassen, man wolle uns in Deutschland nicht mehr sehen. - Das läßt uns nun ein Volk sagen, für das und mit dem man 4 lange, schwere Jahre, Schulter an Schulter im Schützengraben gelegen und gekämpft hat."

(Im Ersten Weltkrieg sind auf deutscher Seite von über 100.000 jüdischen Soldaten 12.000 gefallen. Zu ihnen zählte auch Robert Stern, dessen verwitwete Frau später Hermann Behrend heiratete.)

Von den 114 Juden, die zu Beginn des Jahres 1933 in Lüdenscheid lebten, waren am 17. Mai 1939 nur noch 11 in der Stadt. Die meisten lebten als Flüchtlinge in Nachbarländern (Niederlande, Belgien, Tschechoslowakei u.a.), wo 41 nach Kriegsbeginn verhaftet und in den Tod deportiert wurden.

- Nur wenige Nachrichten von Sinti und Roma

Foto: Zwei Fotos zeigen Erwachsene und Kinder vor Wohnwagen.

Sie verdienten ihren Lebensunterhalt meistens als fahrende Händler. Hier haben sie an der Horringhauser Strasse (Werdohler Höhenstrasse) Quartier genommen, um ihre Waren anzubieten. Über ihre Schicksale wissen wir nichts.

Frau Lenelore Volkenrath, schrieb nach 63 Jahren am 16.8.2007 folgende Erinnerung auf:

"Im Sommer 1944 wurde ich zur DRK-Schwesternhelferin im damaligen Städtischen Krankenhaus an der Philippstraße ausgebildet.
Ich kam auf die Station "Äußere Männer", d.h. auf die chirurgische Station. Damals waren Männer und Frauen noch getrennt untergebracht.
Die Hauptstation befand sich im 1. Stock, aber Schwerkranke, Frischoperierte oder Patienten, die zur Operation vorbereitet wurden, waren im Parterre untergebracht, wo 12 Betten standen.

Eines Tages hatte ich in dem unteren Krankensaal zu tun und sah, wie Schwestern und/oder Pfleger (vielleicht auch ein Arzt) sich bemühten, einen Patienten zu beruhigen und festzuhalten. Er war ein kräftiger, prächtiger junger Mann mit leicht dunkler Haut und schwarzen Haaren, der sich ganz wild gebärdete. Ich konnte mir keinen Reim daraus machen und hörte nachher auf der Station: "Ein Zigeuner - er ist zur Sterilisation hier." Die Operation stand wohl bevor. Sterilisation? Mit meinen damals 19 Jahren war ich noch ziemlich unbedarft und konnte das nicht einordnen.
Im Laufe der folgenden Kriegsereignisse verblasste die Szene - bis nach dem Krieg bekannt wurde, was alles im Namen des deutschen Volkes und der "Reinhaltung des deutschen Blutes" verbrochen wurde. Da kam mir die Erinnerung wieder zum Bewusstsein und seitdem kann ich sie nicht mehr vergessen."19

 

 


1 Sta Münster Arns Wieder 628555

2 Sta Münster Hag Rück 13497

3 vgl.2: Sta Münster Hag Rück 13497

4 Sta Münster Arns Wieder 26491 A: Antrag; B: Wiedergutmachungsbescheid vom 20.10.50

5 Sta Münster Hagen Rück 13888 Bd.1

6 Sta Münster Hagen Rück 13888 Bd.2

7 Sta Münster Arns Wieder 5508

8 vgl. 2: Sta Münster Hag Rück 13497

9 Sta Münster Arns Wieder 433273

10 Aus Gründen des Personenschutzes wurde der Namen geändert.

11 Sta Münster Arns Wieder 55018

12 Sta Münster Hag Rück 13790

13 Sta Münster Hag Rück 13490

14 vgl. 12: Sta Münster Hag Rück 13790

15 vgl. 13: Sta Münster Hag Rück 13490

16 Sta Münster Hag Rück 14159

17 Sta Münster Hag Rück 14138

18 Sta Münster Hag Rück 13957

19 "Lüdenscheider Gedenkbuch für die Opfer von Verfolgung und Krieg der Nationalsozialisten 1933-1945"; HG: Bündnis für Toleranz und Zivilcourage - gegen Gewalt und Fremdenfeindlichkeit, Friedensgruppe Lüdenscheid; 2. Aufl. Sept. 2007; ebd. S. 9 f.

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