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Lüdenscheider Zeitbilder
 

1931 Die Wirtschaftskrise in Lüdenscheid

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Schnurre, Arbeitslager Oberholte, Sportplatz Honsel

 

Die gewaltigen Ausmaße der Krise zeigen die folgen Angaben der Verwaltungsberichte: 1

 

Jahr       1926    1928    1929    1930    1931 
Gew.St.     375     548     657     679     438
Arb.los   1.496     ...     421     835   1.044
Wohlf.      ...     711   2.056   2.506   2.756
Schuld      ...   1.047   4.926   5.706   6.642
Einnah    5.123   5.490   6.559   6.633   6.439
Ausga     5.088   5.541   6.315   6.627   6.493

Jahr       1932    1933    1934    1935    1936
Gew.St.     313     273     409     462     555
Arb.los   3.164   2.520     938     943     299
Wohlf.    2.705   2.116   1.812   1.645     808
Schuld      ...   6.894   6.850     ...     ...
Einnah    5.549   5.558   6.415   7.245   8.642
Ausga     5.826   5.284   5.717   6.804   8.265

Gew.St.: Einnahmen der Stadt aus Gewerbesteuern in 1 000 RM,
Arb.los: Zahl der Arbeitslosen in Lüdenscheid (jeweils März/April),
Wohlf: Ausgaben des Wohlfahrtsamtes, Schuld: Stand der aufgenommenen Anleihen/Schulden,
Einnah: Summe der Haushaltseinnahmen,
Ausga: Summe der Haushaltsausgaben (ordentlich u. außerordentlich)
...: nicht zu ermitteln. 2

Die Gewerbebank wurde 1930 insolvent und musste schließen.

Im Dezember 1929 meldete die Volksstimme 1 760 Unterstützungsempfänger in Lüdenscheid. Deshalb beschloss auf Antrag der SPD die Stadtverordnetenversammlung am 8. Jan. 1930:

"Die Stadtverwaltung wird verpflichtet, dafür zu sorgen, dass allen Erwerbslosen zu Tariflöhnen Arbeit verschafft wird. Sollte durch die Wirtschaftslage die Schaffung von Arbeit nicht sofort möglich sein, so verpflichtet sich die Stadt, allen Erwerbslosen aus Mitteln der Stadt durch fortlaufende Beihilfen Unterstützungen zu gewähren. Allen Erwerbslosen, die einen Monat und länger erwerbslos sind, auf Antrag der Hilfsbedürftigen Kleidungsstücke, Wäsche und Schuhwerk aus Mitteln der Stadt zu überweisen. Des weiteren allen Erwerbslosen vom Tage ihrer Erwerbslosigkeit an aus städtischen Mitteln Einkellerungsmöglichkeiten in Form von Hausbrand und Kartoffeln zu gewähren."3

"Die vom Wohlfahrtsamt besonders unterstützten Erwerbslosen werden zur Zeit mit Notstandsarbeiten beschäftigt. Eine Kolonne hat mit den Ausschachtungsarbeiten für den Neubau eines Doppelhauses im Honseler Bruch begonnen, eine weitere ist mit Aufräumarbeiten am alten Ringofen in der Jahnstraße beschäftigt und eine dritte Kolonne baut einen Verbindungsweg vom Hasley zur Talstraße."4

Während jeder 11. Lüdenscheider Arbeiter arbeitslos war, stiegen die Spareinlagen bei der Städtischen Sparkasse im Jahr 1929 von 6,4 auf 8,2 Mio. RM. Für arbeitslose Mitglieder der gewerkschaftsnahen Genossenschaft 'Einigkeit' mit über 3.000 Teilhabern gab es Erwerbslosenhilfen. 5
Im gleichen Monat April 1930 verließ der alte Oberbürgermeister Dr. Jockusch Lüdenscheid, wurde der erste Tonfilm 'Atlantic' über den Untergang der Titanic in Lüdenscheid gezeigt - ein Ereignis von großer symbolischer Bedeutung für den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Niedergang - und zum Kampf gegen den Alkoholkonsum aufgerufen.

Auch die Geschäftsberichte der Kreis Altenaer Schmalspur-Eisenbahn zeigen die große Krise:

Jahr    1926    1928    1929    1930    1931    1932    1933    1934    1935    1936
Fracht  190Tt   245Tt   223Tt   176Tt   134Tt   108Tt   129Tt   153Tt   153Tt   157Tt
Pers.  1.374   1.831   1.867   1.609   1.369   1.130   1.069   1.710   1.263   1.327
Einnah 1.005   1.292   1.226   0.964   0.795   0.635   0.664   0.731   0.714   0.785

T: Tausend;
t: Tonnen;
Pers.: Millionen Fahrgäste/Personen;
Einnah: Einnahmen in Mio. RM 6

Die Größe und Bedeutung der Weltwirtschaftskrise in Lüdenscheid und seiner Umgebung zeigt der Einnahmenrückgang der KAE von 1928 bis 1932 um mehr als 50 %.

Viele Firmen mussten schließen, so auch die früher große Firma Berg zwischen Klein- und Reichsbahnhof. Harold James schreibt in seinem Standardwerk "Deutschland in der Weltwirtschaftskrise 1926-1936:

"Deutschlands Antwort auf die Weltwirtschaftskrise - der Nationalsozialismus - war historisch einmalig. Zwar brachte die Krise auch anderswo Demokratien zu Fall und autoritäre Regime an die Macht, in denen Experten (Bankiers, Finanzfachleute, Generäle) den Ton angaben. ... Und doch gab es einen Unterschied: Denn nur in Deutschland waren die Technokraten der wirksamen Kontrolle durch eine populistische Massenbewegung unterworfen, die beträchtliches Geschick zur Massenmobilisierung und politischen Propaganda besaß und zuletzt, als Gegenleistung für die Beseitigung der Demokratie , den Technokraten einen hohen Preis abforderte. Die Fachleute alten Schlages aus Wehrmacht und Finanzwelt standen als Verlierer da."

Dazu zählten u.a. General Ludwig Beck, Dr. Hjalmar Schacht.7

Das große Elend wurde im Bericht der Stadt vom 31.3.1932 deutlich:

"Es stehen bei der Stadt in Fürsorge 1 027 Wohlfahrtserwerbslose (mit Familienangehörigen 3158 Personen), 124 Kleinrentner (246 Personen), 361 Sozialrentner (722 Personen), 240 in der allg. Fürsorge (720 Personen), 158 Pflegekinder (158 Personen, 48 in Altersheimen (48 Personen), 5 Blinde und Taubstumme (5 Personen) 10 in der Mädchenschutzstelle (10 Personen). Zusammen 2 069 in Fürsorge stehende (mit Familienangehörigen 5 142 Personen). Dazu 506 Zusatzunterstützungsempfänger der Alu (Arbeitslosenunterstützungsempfänger d.Vrf.) und Kru (Kleinrentenunterstützungsempfänger d.Verf.) (1 518 Personen): Zusammen 2 574 von der Stadt Betreuten (mit Familienangehörigen 6 660 Personen). Ferner werden vom Arbeitsamt betreut 1 991 Arbeitslose und Kru-Empfänger (5 973 Personen) Gesamtunterstütze 4 565 (mit Familienangehörigen 12 633 Personen). Hiervon sind abzuziehen, die von der Stadt zusätzlich unterstützten Alu- und Kru-Empfänger, so dass 4 059 Unterstützungsempfänger (mit Familienangehörigen 11 115 Personen) verbleiben (...) das sind rd. 32 Prozent der Bevölkerung."8

Gleichzeitig nahm die Radikalität und Brutalität der politischen Extremisten zu. Auch in Lüdenscheid kam es zu zahlreichen Schlägereien und Schießereien.9

Gegen die Entsolidarisierung engagierten sich viele: So schufen die freien Gewerkschaften, das Reichsbanner, die Turner und die Arbeiterwohlfahrt den "Sozialen Dienst".

Er ...

"... hat seine Arbeiten aufgenommen und bereits ein Arbeitslager in der Jugendherberge Oberholte errichtet. In Arbeit genommen werden Wegearbeiten in der Gemeinde Herscheid. An dem Arbeitslager in Oberholte können sich alle jugendlichen Erwerbslosen im Alter von 17 bis 25 Jahren beteiligen. Jeder, der gewillt ist, sich in den Dienst der Sache zu stellen, der seine eigene Not und die der Eltern lindern will, ist herzlich willkommen. Wir wissen, dass unsere Jugendlichen abgerissen sind, dass die Ernährung zu wünschen übrig lässt, deshalb betrachten wir es in unserem Lager als höchste Aufgabe, dieser Not abzuhelfen. So erhält jeder Jugendliche, der sich an dem Arbeitslager in Oberholte beteiligen will, einen neuen Arbeitsanzug, ein Paar neue Arbeitsschuhe, eine vollständige Arbeitsausrüstung. Diese soll ihm ermöglichen, auch selbst dann, wenn er über nichts mehr verfügt, die Arbeit aufnehmen zu können. Die Verpflegung ist eine ausreichende und gute. An Taschengeld erhält der Jugendliche täglich 30 Pfg."

Einerseits entwickelte sich in der Not solidarisches Verhalten, andererseits gehörte es zum damaligen Denken, zu polarisieren und anderen eins auszuwischen, um die eigene Identität zu stärken. So schrieb ein Journalist der Volksstimme unter der Überschrift "In Hungerzeiten geboren ...":

" Was not tut, ist nicht das Evangelium des Kinderreichtums, sondern die Verantwortung, die Gemeinde und Staat gerade heute gegen die Neugeborenen haben. Gerade für sie geht es ohne eine voll ausgebildete soziale Fürsorge nicht."10

1932 schufen die Wohlfahrtserwerbslosen die Rodelbahnen im Stadtpark, im Honsel, im Wermeckergrund und in der Lindenau, verbesserten die Sprungschanze im Stadtwald und legten den Sportplatz Honseler Bruch an.11

In der Einleitung zum Verwaltungsbericht 1932-1934 wurden die große Solidarität und Spendenfreudigkeit der Lüdenscheider für das Winterhilfswerk und der neue Geist der Nationalsozialisten hervorgehoben:

"Während früher am 1. Mai ein kleiner Trupp von 'marxistischen Klassenkämpfern' die Straßen der Stadt durchzog, versammelten sich im Jahre des Umbruchs am 1. Maitag die Angehörigen aller Berufsgruppen zu einem machtvollen Zug zum Schützenplatz. Arbeitnehmer und Arbeitgeber marschierten Schulter an Schulter. Sie bekundeten damit das Ende des marxistischen Klassenkampfes und den aufrichtigen Willen, in gemeinsamem Schaffen dem neuen Deutschland in wahrer Volksgemeinschaft zu dienen."

Sie sollte durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gestärkt werden. Schon die Nachfolger Brünings hatten dessen Sparprogramm ab 1932 durch ein vorsichtiges Investitionsprogramm abgelöst. Die Regierungen von Papen, Schleicher und Hitler gaben Gelder für Arbeitbeschaffungsmaßnahmen, mit denen in Lüdenscheid folgende Arbeiten ausgeführt wurden:

1.Ausbau der Talstraße,
2. Ausbau der Schlittenbacherstraße bis zur Stadtgrenze,
3.-11. Kanalbau hintere Worthstr., in der Landwehr, Wefelsholerstr., Schützenstr. Kaiserallee, Obertinsbergerstr., Hotopstr., Hindenburg-Allee, zwischen Landwehr und Philippstr.,
12. Umbau der Hohfuhrstr.
13.Umbau der Poststr.
14. Erneuerung der Bürgersteige an der Knapperstr.,
15. Bürgersteige an der Friedrichstr.,
16. Umbau der Kluserstr.,
17. Ausbau der Kampstr.
18. Umbau der Heedfelderstr.,
19. Bürgersteige an der Siegestr.,
20. Bürgersteige am Rathaus,
21. Umbau der Wiesenstr.,
22. Umbau des Straßenkreuzes Hasley-Philippstr.,
23. Bürgersteige Kölnerstr.,
24. verschiedene andere Bürgersteigausbauten.

Hitler sprach stets vom Frieden, den er für sein Volk mit den Nationalsozialisten stiften wollte. Aber er arbeitete für den innen- und außenpolitischen Siegfrieden der NSDAP, die andere unterwarf. Schon 1933 wurden Lüdenscheider Bürger aufgefordert, Luftschutzkeller einzurichten und Gasmasken zu kaufen. Alle Investitionen in die Infrastruktur mussten dem Regierungspräsidenten gemeldet werden, der sie hinsichtlich der militärischen Bedeutung nach Berlin meldete.

 

 


1 Verwaltungsberichte der Stadt Lüdenscheid 1926-1937

2 vgl. Lothar Weiß: Rheinische Großstädte während der Weltwirtschaftskrise, Köln 1999

3 Volksstimme 8.1.1930

4 Volksstimme 29.1.1930

5 Volksstimme 27.3.1930

6 Westf. Wirtschaftsarchiv Dortmund S 7/367 und Stadtarchiv Lüdenscheid

7 H. James: Deutschland in der Weltwirtschaftskrise 1924 bis 1936, Stuttgart 1988, S. 24

8 Volksstimme 31.3.1932

9 D. Simon: Arbeiterbewegung in der Provinz - Soziale Konflikte und sozialistische Politik in Lüdenscheid im 19. und 20. Jahrhundert, Essen 1995, S. 412 ff

10 Volksstimme 19.12.1932

11 Verwaltungsbericht 1932-1934, S. 20

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1932: Die soziale Krise

Entschuldigung ...
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Foto Winterhilfswerk, Arbeitsamt Lüdenscheid, Stadtarchiv Lüd. Bildsammlung

 

Mit einem extrem kalten ...

Februar 1929 begann in Deutschland das Jahr der internationalen Banken- und Weltwirtschaftskrise.
Das Kino Capitol gab in Lüdenscheid für Erwerblose ermäßigte Vorstellungen, 11 % aller AOK-Mitglieder waren hier im Frühjahr an Grippe erkrankt und viele Wasserrohrbrüche mussten repariert werden. Ca. 15 000 Menschen überquerten zu Fuß den zugefrorenen Rhein bei Kleve. Im Frühjahr 1929 wurde das Siedlungsgebiet Wehberg durch Notstandsarbeiten erschlossen. Hierfür bezahlte die Stadt 5.061 Tagewerke.1
Durchschnittlich erhielten von den Kommunen weniger als 10 % der Erwerbslosen eine Notstandsarbeit. Nicht nur die finanzielle Not der Arbeitsuchenden und Unterstützungsempfänger bedrückte viele, sondern auch die wachsende Wohnungsnot der nun 2.058 Wohnungssuchenden in Lüdenscheid. Das betraf ca.6% der Einwohner. Im Dezember 1929 meldete die Volksstimme 1.760 Unterstützungsempfänger in Lüdenscheid. Deshalb beschloss auf Antrag der SPD die Stadtverordnetenversammlung am ...

8. Jan. 1930:

"Die Stadtverwaltung wird verpflichtet, dafür zu sorgen, dass allen Erwerbslosen zu Tariflöhnen Arbeit verschafft wird. Sollte durch die Wirtschaftslage die Schaffung von Arbeit nicht sofort möglich sein, so verpflichtet sich die Stadt, allen Erwerbslosen aus Mitteln der Stadt durch fortlaufende Beihilfen Unterstützungen zu gewähren. Allen Erwerbslosen, die einen Monat und länger erwerbslos sind, auf Antrag der Hilfsbedürftigen Kleidungsstücke, Wäsche und Schuhwerk aus Mitteln der Stadt zu überweisen. Des weiteren allen Erwerbslosen vom Tage ihrer Erwerbslosigkeit an aus städtischen Mitteln Einkellerungsmöglichkeiten in Form von Hausbrand und Kartoffeln zu gewähren."2
"Die vom Wohlfahrtsamt besonders unterstützten Erwerbslosen werden zur Zeit mit Notstandsarbeiten beschäftigt. Eine Kolonne hat mit den Ausschachtungsarbeiten für den Neubau eines Doppelhauses im Honseler Bruch begonnen, eine weitere ist mit Aufräumarbeiten am alten Ringofen in der Jahnstraße beschäftigt und eine dritte Kolonne baut einen Verbindungsweg vom Hasley zur Talstraße."3

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Foto Arbeitsamt, Stadtarchiv Lüd. Bildsammlung

 

In der Hauptstadt Berlin war die letzte demokratische Regierung mit Reichskanzler Müller an dem Streit der Parteien um die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung im März 1930 gescheitert. Der neue Reichkanzler und Finanzexperte Brüning wurde vom Reichspräsidenten eingesetzt und nicht vom Reichstag gewählt. Brüning glaubte, die Krise nach der großen Inflation von 1923 am besten durch Sparmaßnahmen meistern zu können. Dafür erließ er mehrere Notverordnungen zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen. Zu ihnen gehörten Lohnkürzungen, Preissenkungen, Steuererhöhungen, die Einführung einer Krankenscheingebühr von 50 Pf und die Kürzungen der Zahlungen an Kriegsversehrte und -opfer, die sich auch in Lüdenscheid dagegen wehrten.

Im ...

Januar 1931, gut ein Jahr nach dem Börsensturz, dem "Schwarzen Freitag" vom 25. Okt. 1929, berichteten die Lokalzeitungen über das Empire State Building als höchste Baustelle der Welt und über die Amtseinführung des neuen Oberbürgermeisters Dr. Ludwig Schneider. Während im April die deutschen Faustkampfmeisterschaften zum ersten Mal in Lüdenscheid ausgetragen wurden, meldeten die Zeitungen heftige Produktionseinbrüche. Im ersten Quartal sank der Stückgutverkehr der Reichsbahn um 25 Prozent.4 Wegen der sinkenden Gewerbesteuer führte das Stadtparlament mit den Stimmen der bürgerlichen Parteien die doppelte Bürgersteuer und die doppelte Biersteuer ein, wofür auch der christliche Gewerkschaftssekretär stimmte, während die Sozialdemokraten und die Kommunisten sich vergeblich dagegen wehrten.5

Die ursprünglich geplante allgemeine Lernmittelfreiheit wurde für Schulkinder halbiert.

"Die Eltern aller derjenigen Kinder, die unter der heutigen wirtschaftlichen Not besonders leiden, etwa die Hälfte (April 1931, d.Verf.), haben also keine Aufwendungen für Lernmittel ihrer Kinder zu befürchten. Der Magistrat (ähnlich der Dezernentenkonferenz heute, d.Verf.) geht von der Annahme aus, dass die andere Hälfte der städt. Bürger auch in der heutigen Notzeit noch in der Lage ist, die Lernmittel für ihre Kinder zu beschaffen."6

Aber die Schulen selbst mussten auch sparen.

"Leider haben die durch die Not der Zeit gebotenen Sparmaßnahmen auch vor der Schule nicht haltgemacht. Von den vorgesehenen 4 weiteren Lehrerstellen konnten nur 2 eingerichtet werden. Das machte leider die Auflösung von 2 weiteren Klassen notwendig. Eine Anzahl Schüler musste einer anderen Klasse und einem anderen Lehrer oder gar einer anderen Schule zugewiesen werden."7

Die Volksschulklassen wurden bis 1933 von 40 auf durchschnittlich 52 vergrößert und 23 Lehrer gespart, die als fertig ausgebildete Fachkräfte nun arbeitslos waren.8
Manche arbeitslose Lehrer arbeiteten ohne Lohn, ca. 20 000 Lehrer waren in Deutschland arbeitslos.9

1930 zahlte die Stadt für die Schüler:10

                         Zuschuss der Stadt     Schülerzahl     Zuschuss pro Kopf 
Volksschulen              337.726 Mk.             2.990            112,95 Mk.
Realgymnasium             114.960 Mk.               496            286,20 Mk.
Oberlyceum                 72.594 Mk.               351            206,82 Mk.
Berufsschule               63.284 Mk.             1.460             43,34 Mk.
Handelsschule               2.904 Mk.                36             80,67 Mk.
Haushaltungsschule          4.723 Mk.                29            163,00 Mk.

Für erwerblose Jugendliche waren im Februar kostenlose Kurse eingerichtet worden, mit denen man sich qualifizieren konnte.11

Gleichzeitig wuchsen die politischen Konflikte und die Gewalt besonders der Nationalsozialisten gegen Andersdenkende; zu denen zählten vor allem Kommunisten, die ebenfalls Gewalt einsetzten. Da die politische Einigkeit fehlte, Konflikte ohne Gewalt zu lösen, stand die Polizei immer mehr auf verlorenem Posten. Das zeigt besonders der Artikel des Polizeimajors Heinrich aus Berlin:

"Die republikanische Polizei dient dem Volk. Sie kann diese Aufgabe aber nur erfüllen, wenn das Volk mithilft. Zweifellos stehen uns noch schwere Tage bevor. Die Polizei braucht in diesen Tagen unbedingt die Unterstützung aller staatstreuer Bürger."12

Die wirtschaftliche und soziale Not wuchs. Lüdenscheider mit einem landwirtschaftlichen Betrieb oder einem Wandergewerbeschein wurden 1931 von jeder Unterstützung ausgeschlossen. Von den 2 146 Gewerbebetrieben gerieten viele in Not und standen vor der Insolvenz. 13 Deshalb wurde die große Traditionsfirma Berg sogar stillgelegt.
Die verbreitete Armut einerseits und das fehlende Wohnungsangebot andererseits führten im Juli zur Schließung des Wohnungsamtes.14 Die Öffnungszeiten der Badeanstalt wurden ebenfalls eingeschränkt.15 Dagegen zog das städtische Unterstützungsamt in das sog. Alte Krankenhaus Hochstr. 17/Ecke Staberger Str., wo mehr Raum für die große Zahl der Unterstützungsempfänger zur Verfügung stand.

Im

November 1931 konnte das Amt Lüdenscheid melden, dass die Versorgung der Unterstützungsbedürftigen mit Kartoffeln abgeschlossen und gesichert sei und die Belieferung mit Kohle voranschreite. Die Stadt bot Erwerblosen erneut Gärten an und gab Empfehlungen für deren sinnvolle Nutzung. Genau wie im vorigen Winter wurde zur Weihnachtsnothilfe aufgerufen.
In dieser Situation wurden NSDAP und SA auch in Lüdenscheid immer stärker. So hieß es in einem SA-Sturmbefehl vom 9. Dez.1931:

"Am Freitagabend 8 Uhr haben Sie zwecks Untersuchung im reinlichen Zustand unter Mitbringung eines Fläschchen Urin mit Namensaufschrift im SA-Heim, Werdohler Str. 43, zu erscheinen. Untersuchung ist Pflicht und erhalten Sie hiermit den Befehl. Sturmführer 42. Handschriftl. Brake."16

Am Ende des Jahres zahlte die Stadt den Unterstützungsempfängern eine kleine Erhöhung der Richtsätze zu Weihnachten und stellte Bezugsscheine für verbilligtes Frischfleisch aus.
Der Verwaltungsbericht 1931/32 stellt die allgemeine Wirtschaftslage so dar:

"Bis zum Abschluß dieses Berichts nahm die Verschlechterung auf allen Wirtschaftsgebieten zu. Im Frühjahr 1931 griff die Krise weiter um sich und steigerte sich im Juli zu einer Finanzkatastrophe, welche die gesamte Wirtschaft stark erschütterte und die Erwerbslosigkeit erheblich vergrößerte. ... In der hiesigen Industrie nahmen die Betriebsstilllegungen und -Einschränkungen zu. Alteingesessene Betriebe gerieten ins Wanken und mussten ihre Arbeit stark einschränken, zum großen Nachteil für das allgemeine Wohl." (S.23)

Am 31.12.1931 sah die Anzahl der Arbeitslosen und Wohlfahrtsempfänger so aus:

           m. Arb-   w. Arb.-   m. Für-    w. Für-     Wohl-    zu-
           los       los        sorge       orge       fahrt    sammen
Stadt      736       142        635          24        1.143    2.630
Lüd.
Amt        209        23        237           6          410      885
Lüd. H.
Amt Lüd.H.: Amt Lüdenscheid und Gemeinde Hülscheid

Erwerbslose ohne Unterstützung einschließlich Wohlfahrtserwerbslose:

Datum       Stadt        Amt
            Lüdenscheid  Lüdenscheid
1.1.1930       272          617
1.1.1931       614        1.557
1.1.1932     1.143        4.083

Die vielfältigen politischen Streitigkeiten und die große wirtschaftliche Not durch die Arbeitslosigkeit von zeitweise mehr als 30% führten zu einer schweren sozialen Krise, die mit den demokratischen Möglichkeiten der Weimarer Republik deshalb nicht mehr überwunden werden konnte, weil sich immer weniger Verantwortliche an die Grundregeln der Demokratie hielten: Gewaltfreiheit, Kompromissbereitschaft, Achtung der Andersdenkenden und Wert der Vielfalt/Freiheit.

Der Rektor der Westschule beschrieb die Trostlosigkeit zu Beginn des neuen Schuljahrs im ...

Frühjahr 1932: Die meisten Fabriken stehen leer; die Jugend wird der Arbeit entwöhnt; die Verarmung zeigt sich in der Kleidung und dem Aussehen; der Dachboden der Schule wird von der Malerinnung genutzt, die hier arbeitlose Jugendliche ausbildet; die Firma Tietz (ab 1933 der Kaufhof ) spendet Lebensmittel für die kostenlose Speisung bedürftiger Schüler in der Schulküche; ab Oktober wird der Kochunterricht aus Kostengründen eingestellt. Im Winter 1930/1931 wurde die Spendenaktion "Winterhilfe" durchgeführt, die 8.720,98 RM ergab, von denen 220 Paar Schuhe, 21 Hosen, 39 Hemden, 38 Frauenkleider, 116 Wäscheteile, 80 Kinderanzüge, 20 Kindermäntel, 24 Kindersweater, 44 mal Bettwäsche, 298 Meter Wäschestoff, 13 Oberbetten und andere Textilien gekauft und verteilt wurden.

Im September 1931 hatte der Amtsbürgermeister dazu aufgerufen, dass den 1 471 Unterstützungsempfängern des Amtes und den 386 der Gemeinde Hülscheid von allen gemeinsam geholfen werden müsse, durch den Winter zu kommen.17

Ein ähnlicher Aufruf wurde von 26 Einrichtungen und öffentlichen Persönlichkeiten auch an die Bewohner der Stadt Lüdenscheid gerichtet:

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Motiv Nothilfe Lüdenscheid, der Künstler und die Verbreitung der Grafik sind unbekannt, Stadtarchiv Lüd.

 

"Die unterzeichneten Organisationen richten, obwohl sie wissen, dass die Wirtschaftsnot auf allen Kreisen lastet, an alle Einwohner unserer Stadt, die noch nicht selbst in drückender Not sind, den dringenden Mahnruf, nach besten Kräften abzugeben an die Notleidenden (!) Mitbürger, insbesondere den Kindern, Kranken und Pflegebedürftigen zu helfen. Nur wenn die Bevölkerung als wirkliche Not- und Volksgemeinschaft zusammensteht, kann die furchtbare Prüfung dieser Notzeit bestanden werden. Die Nothilfe will alle Kräfte der freien Liebestätigkeit zu diesem Zwecke zusammenfassen (...)
Der Ertrag der Sammlung fließt nicht zur Entlastung des städtischen Etats in die Stadthauptkasse, sondern wird getrennt verwaltet und von einem von den unterzeichneten Organisationen bestellten ehrenamtlichen Ausschuß unter die Hilfsbedürftigen verteilt."18

Am gleichen Tag informierte die Volksstimme unter der Überschrift
"Die Organisation des Wohlfahrtsamtes entspricht nicht den Anforderungen":

"Um 8 Uhr wird der Andrang beängstigend. Die Leute werden schubweise hereingelassen. Der Erwerbslose, der um 8 Uhr erscheint, hat Glück, wenn er um 12 Uhr abgefertigt ist. Die Dienststunden für den öffentlichen Verkehr sind von 7.30-12.30 Uhr. Aber der letzte Erwerbslose verlässt in der Regel das Wohlfahrtsamt in der Zeit von 2.00-2.30 Uhr. Mit ihm natürlich auch die Angestellten, die dann um 2.30 Uhr bezw. 3 Uhr zum Mittagsbrot kommen. Die Organisation des Wohlfahrtsamtes entspricht überhaupt in keiner Weise den Anforderungen. (...)
Die Dienststunden gehen bis abends 6 Uhr, aber wohl keinen Abend verlassen die angestellten die Räume vor 8 Uhr. Für Samstagnachmittag und Sonntags nehmen sich die Angestellten Arbeit mit nach Hause, auch da muß Abhilfe geschaffen werden. Der Erwerbslose, der nun schon so lange Zeit die Not am eigenen Leib erfahren hat, ist nicht mehr der ruhige Bürger."

Sechs Ereignisse und Maßnahmen führten zur Verarmung:

"1.Steigerung der Arbeitslosigkeit durch die sich die Zahl der Einkommensbezieher vermindert.
2. Einschränkung der Arbeitszeit, die den Verdienst der davon Betroffenen erheblich schmälert.
3. Senkung der Tariflöhne und Gehälter.
4. Abbau der übertariflichen Bezahlung.
5. Heraufsetzung der Beitragsleistung zur Arbeitslosenversicherung auf 6,5 Prozent.
6. Einführung der Bürgersteuer, der Ledigensteuer und der Krisenlohnsteuer."19

Angesichts der Größe der Krise stellte der Magistrat im September "Gartenland für Wohlfahrtserwerbslose zwecks Anbau von Gemüse und Kartoffeln"20 zur Verfügung.
Außerdem sollte die Einrichtung einer zweiten Volksküche geprüft werden, weil die Volksküche im Krankenhaus nur 250-280 Essen am Tag ausgeben konnte.

Foto: Gebäude des Krankenhaus an der Philippstr. .
Das 1899 errichtete Krankenhaus an der Philippstr. wurde ab 1986 nach und nach abgerissen.

 

Im Herbst richtete der ADGB zusammen mit der Arbeiterwohlfahrt eine Volksküche im Gewerkschaftshaus ein, wo alle arbeitslosen Mitglieder der freien Gewerkschaften (die bürgerlich-christlichen waren ausgeschlossen.) für 35 Pf ein Essen erhalten konnten.21
Außerdem konnten sie sich dort aufhalten, aufwärmen und die Gewerkschaftszeitungen lesen. Zum Weihnachtsfest erhielten die erwerblosen Mitglieder kleine Geschenke. Der Rückgang der Steuereinnahmen betrug 1931 gegenüber 1930 480.000 RM.

"Es bleiben darum für die Deckung (...)
außer den Berufsschulbeiträgen und der Müllabfuhr nur noch Notsteuern. Berufschulbeiträge sind bisher in Lüdenscheid noch nicht besonders erhoben worden; man hat das Schulgeld aus den Erträgnissen der Gewerbesteuer genommen. Eine Müllabfuhrgebühr hat man bisher in Lüdenscheid ebenfalls noch nicht gekannt."22

Zu einem Beschluss konnte man sich nicht durchringen. Der wurde allerdings im Mai 1932 von der Aufsichtsbehörde, also dem Regierungspräsidium, angeordnet, dessen Macht als Aufsichtbehörde der kommunalen Haushaltsführung in der Wirtschaftskrise erheblich zunahm und den Weg zur obrigkeitsstaatlichen nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik ebnete.

 

 


1 Verwaltungsbericht 1930, S.29

2 Volksstimme 8.1.1930

3 Volksstimme 29.1.1930

4 Volksstimme 19.5.1931

5 Volksstimme 29.4.1931

6 Volksstimme 18.4.1931

7 Volksstimme 11.4.1931

8 Volksstimme 28.10.1931 und 16.2.1932

9 Volksstimme 8.7.1932

10 Volksstimme 13.5.1932

11 Volksstimme 1.2.1931

12 Volksstimme 1.6.1931

13 Volksstimme 12.2.1931

14 Volksstimme 21.10.1931

15 Volksstimme 7.10.1931

16 Volksstimme 14.12.1931

17 Volksstimme 19.9.1931

18 Volksstimme 17.9.1931

19 Volksstimme 15.9.1931

20 Volksstimme 14.9.1931

21 Volksstimme 13.11.1931

22 Volksstimme 4.3.1931

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