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Lüdenscheider Zeitbilder
 

1929: Kleiner Wohlstand, große Vielfalt, mangelnde Zusammenarbeit

1. Deutschland

Zehn Jahre nach Kriegsende stritten die Menschen in Deutschland um dessen Folgen.

Im November 1918 hatte sich die Mehrheit für den Sturz der Monarchie und der Kriegsbefürworter eingesetzt. Aber den Schuldspruch des Friedensvertrags - der von der Mehrheit Friedensdiktat genannt wurde - war von den meisten Deutschen abgelehnt worden, gleich ob sie Mitglieder der Friedensgesellschaft waren oder zu Freikorps gehörten. Im Streit um die Kriegsfolgen und ihre Bewältigung brach die Demokratie 1930- 1933 zusammen.

Vier Ereignisse sollen dafür als Beispiel dienen.

1.1. Radikale gewinnen die Macht

Außenpolitisch konnten Reichskanzler Hermann Müller (SPD 1928-30) und Außenminister Gustav Stresemann (DVP 1923-29) mit dem Youngplan die Reparationskosten senken und die internationale Anerkennung gewinnen, aber innenpolitisch war die Bereitschaft zur Schaffung tragfähiger Kompromisse so gering, dass die demokratischen Parteien und die Regierung immer mehr Vertrauen verloren. Der Reichstag wurde nicht mehr als Zentrum der politischen Entscheidungsfindung angesehen, sondern als "Quasselbude" verachtet. Interessenvertreter beim Reichspräsidenten, Kampfverbände (SA, Rot-Front, Freikorps u.a.), Reichswehr, Zeitungskonzerne u.a. wurden zu außerparlamentarischen Machtzentren, die immer mehr Einfluss auf Kosten des Reichstags und der Demokratie gewannen.

1.2. KPD und SPD im Streit

Seit dem Ende der gewaltsamen politischen Konflikte 1918-1923 wurde am 1. Mai 1929 erstmals wieder auf den Straßen Berlins geschossen. Aus innenpolitischen Sicherheitserwägungen hatte der SPD-Polizeipräsident den Kommunisten die Mai-Kundgebung verboten. Sie hielten sich nicht daran und nach drei Kampftagen waren 19 Tote und sechsunddreißig Schwerverletzte zu beklagen. Der Bruderstreit zwischen SPD und KPD war eine der schwersten politischen Lasten der Weimarer Republik, weil keine gemeinsame Auseinandersetzung gegen die nationalkonservativen, völkischen, militaristischen, demokratiefeindlichen und autoritären Bestrebungen gefunden wurde.

1.3. Verunsicherungen

Viele soziale Verbesserungen hatte die Politik den Arbeitern gebracht, aber auch viele Verluste. So führte die Inflation 1923 dazu, dass die Besitzer von Sparguthaben fast alles verloren, während die Besitzer von Häusern, Fabriken oder Wertgegenständen Gewinne erzielten. Neben der materiellen Verunsicherung trat noch eine sozialpsychologische. Die großen kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen - Verlust von Adels- und Standesprivilegien, mehr Rechte für Frauen, viele gegensätzliche Kultur- und Lebensstile - verunsicherten immer mehr Menschen. Am stärksten prägten Gegensätze zwischen sozialistisch- kommunistischen Politikern und kapitalistisch-bürgerlichen die Gesellschaft.

1.4. Weltwirtschaftskrise

Als mit dem Schwarzen Freitag im Oktober 1929 an den Börsen in New York und dann weltweit die größte Wirtschaftkrise der Neuzeit begann, war die Summe der Unsicherheiten so groß, dass sich immer mehr Menschen nach einem starken "Führer", "Retter" oder Diktator sehnten.

2. Lüdenscheid (Stadt und Land) spiegelte zu einer Promille die meisten Ereignisse in Deutschland.

2.1. Wirtschaftlicher Aufstieg und Krise

Der wirtschaftliche Aufstieg zeigte sich im Gewerbesteueraufkommen:
Lüdenscheid: Jahr  1925  1926  1927  1928  1929  1930  1931  1932
Gewerbesteuer       469   548   564   538   657   679   438   313
(in 1000 Mark)

Die Einkommen der Arbeitgeber und -nehmer waren im 1. Weltkrieg dank der Rüstungsproduktion viel höher gewesen. Aber gegenüber der Inflation von 1923 hatte sich die wirtschaftliche Lage verbessert. Lüdenscheid war eine Industriestadt für viele Halbfertigwaren mit vielen Kontakten besonders nach West- und Nordeuropa. Neben der Metall- und Elektroindustrie entwickelten sich eine vielfältige Geschäftswelt und ein kleinerer Dienstleistungssektor.

2.2. Politische und gesellschaftliche Entwicklung nach 1929

Die große Vielfalt der Stadt zeigt die "Chronik der Stadt Lüdenscheid" von Hans Strodel (1929) deutlich. Sie wird hier vorgestellt, um die starken Veränderungen ab 1933 zu erklären.

Die Kommunalwahlen hatten im November 1929 folgende Ergebnisse:

         SPD/  Bürgerl.  Kommun.  Hausschutz  Evgl.  Zentrum  Soziale
         USPD  AG                            Volksd.            IG
Prozent   33%    27%       10%       10%       6%       7%      3%
Rats-     13     10         4         3        2        2       1
sitze:

Die Reichstagswahl im September 1930 zeigte die großen Veränderungen in Lüdenscheid an:

SPD    KPD   NSDAP   Deutsche     Evangel.   Zentrum    Dt. Staats-    Deutschnat.
                      Volks-       Volks-               partei/DDP     Volkspartei
                      partei       dienst
29 %   20 %   12 %     9 %         9 %         7%          6 %           5 % u.a.

Die Gegner der Demokratie erhielten auch in Lüdenscheid 1930 zusammen die relative Mehrheit: Nationalsozialisten und Kommunisten.

Im Gegensatz zu anderen Städten hatten die aktiven Nationalsozialisten hier keinen Sitz im Rat erreichen können. In der eng gebauten Stadt kannten sich die meisten Menschen untereinander gut. Dadurch gab es eine starke soziale Kontrolle und Bindung.

2.3. Gesellschaftliche Vielfalt

Daneben behauptete sich aber auch eine gesellschaftliche Vielfalt, die sich zum Beispiel in drei Tageszeitungen zeigte:

Lüdenscheider Generalanzeiger (bürgerlich-konservativ), Volksstimme (SPD-nah), Lüdenscheider Tageblatt (liberal)

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1. Foto: 3 Zeitungen, senkrecht gleicher Tag? Kommunalwahl?

 

Hier gab es vier Konsumgenossenschaften:

  • Der "Lüdenscheider Consum Verein" von 1863 verwirklichte neben der Grundversorgung seiner Mitglieder auch kulturelle Veranstaltungen und vermittelte bürgerliche Werte (Schultze-Delitzsch-Konsumverein); 1888 zentraler Neubau an der Corneliusstr., 1937 Enteignung, dann Stadthaus und Stadtbücherei
  • Spar- und Consum-Verein der Fabrikgenossenschaft von P.C. Turck Wwe
  • Arbeitnehmer gründeten 1892 die "Consum- und Produktivgenossenschaft Einigkeit".
    Sie war mit mehr als siebentausend Mitgliedern und 20 Geschäften in der Stadt und im Landbezirk Lüdenscheid die größte Konsumgenossenschaft.
  • Der kleine Konsumverein "Volkswohl" wurde von den christlichen Gewerkschaften gegründet.

Sieben Laienspielgruppen, zahlreiche professionelle Theater- und Opernaufführungen meistens im Hotel zur Post, die Kunstgemeinde, verschiedene Orchester - besonders das städtische - und regelmäßige Zirkusbesuche bereicherten das kulturelle Leben. Zeitweise boten fünf Kinos vielen Menschen für wenig Geld die Filme der Zeit an.

Verschiedene gesellschaftliche Gruppen verwirklichten in ihrem Sinn Bildungsveranstaltungen. Auch verschiedene Lesezirkel gehörten dazu. Die lassen sich vereinfacht in die drei "Lager" der Arbeitnehmer (mit eigener Bibliothek), liberale und konservative Bürger (Stadtbücherei) und Christen (Gemeindebüchereien) einteilen.

Pastor Störmer baute ab 1919 die Volkshochschule für jeden Interessenten mit den Fachbereichen Naturwissenschaften, Volkswirtschaft und Geschichte auf.

Viele Sänger gab es in ca. 20 Chören: Lüdenscheider-Männer-Gesang-Verein, Katholischer Männerchor Quirinus, Lüdenscheider Männerchor (aus Germania und Philomene), Männergesangverein Cäcilia, Arion, Teutonia, Euphonia, Liederkranz, Sängertreue, Sängergruß, Eintracht, Gesangsabteilung des LTV, Höher Gesangsverein, Glocke, Gesangsabteilung des Wehrvereins, Viktoria Worth, Sangeslust, Kirchenchöre u.a.

  • Turn-, Wehr-, Schieß-, Kegel-, Gesangs-, Jagd-, Schützen-, Sedans- und Landwirtschaftsfeste gehörten zu den geselligen und patriotischen Veranstaltungen.
  • Der Sauerländische Gebirgsverein, die Naturfreunde und andere Wandergruppen förderten zusammen mit dem Jugendherbergswerk den Volkssport Wandern.
  • Die Sportvereine spiegelten die fachliche und gesellschaftliche Vielfalt in Lüdenscheid: Radsport, Kraftsport, Rasensport, Tennis, Reiten, Eissport, Motorsport, Skiport, Flugsport, Schwimmsport, u.a.
  • Großen Zuspruch erzielten die Schützenvereine mit ihren Schützenfesten als wichtigste Volksfeste und Höhepunkte im gesellschaftlichen Leben der Stadt.

Zu den militärischen Vereinen gehörte der Kriegerverein, der Wehrverein, die Artillerievereinigung, der Garde-Verein, der Verein der ehemaligen 97er, der Kavallerieverein , der Stahlhelm, der Jungdeutsche Orden, das Reichsbanner, der Königin Luise Bund, der Kolonialverein, der Flotten-Verein, der Alldeutsche Verband, der Patriotische Erneuerungsbund, der Verein für Deutsche im Ausland u.a. mit insgesamt ca. 5.000 Mitgliedern in Lüdenscheid.

 

Foto: Ein Kaufhaus mit einer Werbetafel: 'Weihnachts-Verkauf'
Kaufhaus Tietz, ab 1933 Kaufhof,
heute: Neues Ärztehaus

 

Zu den drei wichtigen geselligen Vereinigungen zählten die Concordia an der Konkordiastraße, die Erholung und die Freimaurerloge zum Märkischen Hammer.

Klein war die Lüdenscheider Gruppe der Deutschen Friedensgesellschaft, deren führender Kopf Küster lange in Hagen aktiv war, bevor er nach Berlin ging.

Neue Ämter der Stadtverwaltung bemühten sich um Verbesserungen in Lüdenscheid: das Jugendamt, das Gesundheitsamt und das Arbeitsamt.
Die evangelische Kirche und die Stadt entwickelten die Sozial- und Gesundheitswesen zeitgemäß weiter, sodass die Stadt keinen Vergleich scheuen musste. Zusätzlich hatten die verschiedenen Religionsgemeinschaften zahlreiche soziale Einrichtungen und Hilfen. Hinzu kamen freie Träger wie das Deutsche Rote Kreuz.

Zur Infrastruktur gehörten auch alle Schulformen und die Verkehrsanbindung: Zugverbindungen nach Hagen, Remscheid und Dieringhausen, die Busverbindung über Wipperfürth nach Köln und zu zahlreichen Nachbarorten erhöhten die Mobilität.

Mehr als 200 kleine Geschäfte - meistens Lebensmittelhändler - und einige große - z.B. L.Tietz/Kaufhof oder Alsberg - dienten der Versorgung, die trotz einiger Importe und Kolonialwaren nicht so vielfältig wie heute ausfiel.

Es gab also in Lüdenscheid Vielfalt (64 Vereine mit 1960 Jugendlichen)1, Freiheit, etwas Wohlstand, aber - wie in fast allen Orten Deutschlands - zu wenig Bereitschaft, demokratische Gemeinsamkeiten zu schaffen. Mit ca. 5 000 Mitgliedern in mehr als 25 militärischen Vereinen stellten sie mehr als 1/3 aller Vereinsmitglieder in Lüdenscheid.2

2.4. Politische und kulturelle Entwicklung

Der 1. Weltkrieg und der Vertrag von Versailles verursachten eine tiefe gesellschaftliche Spaltung, die zwischen Nationalkonservativen, Liberalen und Sozialisten. Die Kluft zeigte sich beispielhaft im Konflikt um einen Ort des Gedenkens für die Opfer des Ersten Weltkrieges. Der konservative Kriegerverein der Stadt- und Landgemeinde Lüdenscheid beantragte 1922 ein Ehrenmal für die Gefallenen des 1. Weltkriegs. In der Volksstimme meldete die SPD hiergegen Bedenken: Angesicht der finanziellen Engpässe gäbe es "eine bessere Ehrung der Gefallenen, indem wir uns ihrer notleidenden Hinterbliebenen richtig annehmen." 3

Foto: Eine liegende, übergroße, nackte männliche Figur mit einem Lorbeerkranz auf einem Sockel. Vor dem Sockel Ehrenkränze. Rechts und links daneben Soldaten als Ehrenwache.
Das Ehrenmal für die Gefallenen des ersten Weltkrieges wurde 1929 angelegt.
Aus einer geplanten Figur eines "Gefallenen" wurde in der NS-Zeit 1935 ein "Erwachender Jüngling".

 

Unter dem einflussreichen DVP-Politiker Otto Hembeck wurde ein Ausschuss für die Errichtung des Ehrenmals auf der Stadtparkterrasse an der Parkstraße gebildet. Als auch der Stahlhelm beitrat, war es für Schwarz-Rot-Gold und Rot Front nicht mehr möglich mitzuarbeiten. Als der Verein der Stadt 25 000 Euro für das Denkmal überreichte und sie 1927 15 000 Euro hinzu gab, konnte ein Wettbewerb ausgeschrieben und die Verwirklichung begonnen werden. Unter 18 Vorschlägen wurde der von Fritz Fuß und Willy Meller mit dem Titel "Pro Patria" ausgewählt. Die lang gestreckte Terrassenanlage mit einer wuchtigen Stützmauer sollte auf neun Säulen die 1250 Namen der Gefallenen tragen; davor sollte in Zentrum die ca. 4,5 m große Bronzeplastik eines gestürzten Mannes ihren Platz finden. In der Volksstimme lautete die Kritik, dass der Gedanke "Nie wieder Krieg!" "in keiner Weise berücksichtigt" werde.4

Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, das Mitglieder aus SPD, DDP und Zentrum hatte, aber stark von der SPD geprägt war, gab seine Mitarbeit auf. Im Dezember 1929 begutachtete der Denkmalausschuss die Gedenkanlage, beurteilte sie als gut und sprach sich für die Ausführung des Modells eines nackten Mannes von W. Meller aus. Als das im Lüdenscheider Generalanzeiger veröffentlicht wurde, gab es eine heftige Diskussion: Der Vertreter des Stahlhelms schrieb: "Aber wo bleibt das Heldentum unserer Gefallenen? Nichts, aber auch rein gar nichts deutet darauf hin, nur nackte Hülflosigkeit."5

Körperkult und Nacktheit wurden von konservativen Christen kritisiert. Die Weltwirtschaftkrise verhinderte die Ausführung der Skulptur bis zur Wahl der NSDAP zur Regierungspartei. Dann wurde die Skulptur von W. Meller so überarbeitet, dass der Mann 6 m groß gestaltet wurde und sich deutlich aufrichtet; dadurch kann er den nun freien Arm mit der geballten Faust gegen Osten erheben. Keine Versöhnung über den Gräbern und keine gemeinsame Erinnerung an gemeinsames Leid und Tod wurden dargestellt, sondern die einseitige Deutung des Kriegstoten als Held der Vergangenheit für den Dienst an einer starken nationalen Zukunft: "Deutschland erwache" (Kampfruf der NSDAP). Heldentum dient der Vergrößerung von Macht und Ruhm, dagegen führt Trauerarbeit zu deren Abbau.

 

 


1 Verwaltungsbericht 1931/32, S. 16

2 Strodel 114 ff

3 Volksstimme 30.10.1924

4 Volksstimme 7.10.1927

5 Lüdenscheider Generalanzeiger 3.12.1929

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1930: Die politischen Krisen

Die Weltwirtschaftskrise traf seit 1929 in der Weimarer Republik auf politische und soziale Krisen, die zum Vertrauensverlust vieler Deutscher in die Demokratie führten. Die Bevölkerungsmehrheit erlebte seit 1918 viele soziale, wirtschaftliche und politische Probleme, die durch Gruppeninteressen verschärft wurden, statt sie zu lösen. Zu oft fehlte die Bereitschaft zum tragfähigen politischen Konsens angesichts der Meinungs- und Interessenvielfalt.

Richtet man den Blick vorwiegend auf die Politik, dann ist für den Anfang und das Ende der Republik die hohe Zahl von politischen Morden erschreckend. Der Mathematikprofessor Emil Gumbel hatte 1923 folgende Statistik veröffentlicht: In den ersten vier Jahren der Demokratie gab es 376 politisch motivierte Morde; davon wurden 354 von rechten Tätern begangen und 22 von linken; deren Gewalttaten wurden mit 10 Hinrichtungen und zusammen 249 Jahren Zuchthaus sowie dreimal lebenslänglich bestraft; für die 354 Morde von Rechtsradikalen (meistens ehemalige Soldaten) verhängten die Gerichte 90 Jahre, eine lebenslängliche Strafe und 730 Reichsmark Geldstrafe; 326 Morde blieben ungestraft.

Ab 1923 ging die Zahl der politischen Morde stark zurück und stieg wieder ab 1929. Allein in den ersten 8 Monaten des Jahres 1932 gab es in Deutschland 156 politische Morde, meistens von Nationalsozialisten verübt. 1

Von Mitte Juni bis zum 20. Juli 1932 forderte der Straßenterror allein in Preußen 99 Tote und 1 125 Verletzte.2 Die Gewalt nach den Gewaltexzessen des 1. Weltkriegs, die einseitige Rechtsprechung der Gerichte und die fast unübersehbare Kultur- und Meinungsvielfalt führten zur Angst und Verunsicherung unter vielen Menschen.

"Das Vertrauen zur Republik war endgültig verbraucht nach zwanzig Regierungen mit einer Durchschnittsdauer von acht Monaten, mit zwölf Reichskanzlern in acht Koalitionsvarianten. Allein bei der Reichstagswahl am 31. Juni 1932 hatten sich 61 Parteien und Sondergruppen zur Wahl gestellt." 3

In der unübersichtlichen und gefährlichen Vielfalt riefen viele nach einem starken Führer, der alleinverantwortlich und autoritär die Macht in Deutschland übernehmen und den oft gewalttätigen Parteienkonflikten ein Ende setzen sollte. Auf die Krisen und Unsicherheiten antwortete die NSDAP mit dem Führerkult und paramilitärischen Umzügen der SA, die oft in Straßenschlachten aktiv wurde. In der Strategie sah die NSDAP eine Chance für sich. Sie bot mit der "nationalen Bewegung" eine Gemeinschaftsperspektive ohne demokratische Parteienvielfalt an, die als "Parteiengezänk" verachtet wurde.

Foto:
Dr. Ludwig Schneider, 1931-1935
Oberbürgermeister Lüdenscheids

 

Anhand von vier politischen Ereignissen soll das politische Ende der Weimarer Demokratie in Lüdenscheid gezeigt werden.

  • 1. Die Ernennung Heinrich Brünings zum Reichskanzler
  • 2. Oberbürgermeister Dr. Ludwig Schneider
  • 3. Judenfeindschaft
  • 4. Die Presse

  • 1. Die Ernennung Heinrich Brünings zum Reichskanzler
  • Als Reichspräsident von Hindenburg am 29. März 1930 den Zentrumspolitiker und Finanzexperten Heinrich Brüning aus Münster zum Reichskanzler ernannte und ihn beauftragte, ohne Rücksicht auf die Parteien und den Reichstag ein Kabinett von Fachministern zu bilden, war das ein erster Schlag gegen die Weimarer Demokratie, weil der Reichskanzler nicht mehr von der Zustimmung des Parlaments, sondern des Reichspräsidenten abhängig war. Brüning lehnte Forderungen nach einer staatlichen Belebung der Wirtschaft durch Kredite ab und führte einen rigorosen Sparkurs. Er setzte die Krise als Mittel ein, um den Gläubigerstaaten die Zahlungsunfähigkeit Deutschlands zu beweisen und sie zum Erlass der Reparationszahlungen für die Schuld am 1. Weltkrieg zu bewegen. So wollte er die politische und wirtschaftliche Last des Versailler Vertrags beenden.
    Die Not und die Unzufriedenheit der Deutschen wegen des wirtschaftlichen Krisenmanagements der Regierung, wegen der hohen Arbeitslosigkeit von 30 % und wegen der sozialen Verelendung führten zur Entlassung Brünings am 30. Mai 1932.

    Sein Nachfolger wurde der westfälische Offizier Franz von Papen aus Werl, der mit der Familie Hindenburg befreundet war. Der Reichspräsident ernannte den unbekannten Adeligen zum Reichskanzler, der zum "Steigbügelhalter" Hitlers wurde. Mit ihm führte er Geheimgespräche, an deren Ende die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler durch Reichspräsident von Hindenburg stand.

    In der Landtagswahl vom 15. Januar 1933 in Lippe wurde die NSDAP durch eine umfassende Propaganda mit 39,5 % die stärkste Partei. Der Propagandachef Dr. Goebbels wertete das als "Volksurteil für Hitler", womit dessen Ernennung zwei Wochen später vorbereitet war.4

    Als Reichkanzler bereitete er die letzte halbwegs freie Wahl am 5. März 1933 vor. In Lüdenscheid fiel sie so aus (gerundet):
    NSDAP 33 %, KPD 23 %, SPD 21 %, DNVP 9%, Zentrum 7%, Ev. Volksdienst 4%, DVP 1,6 %, DDP (ab 1930 Dt. Staatspartei)1,6 %.
    Die Wahlbeteiligung lag bei 91 %.

     

  • 2. Oberbürgermeister Dr. Ludwig Schneider

  • Er schrieb im Lebenslauf für seine Bewerbung:

    "Ich wurde 1893 in Niedermöllrich bei Kassel geboren.

    Wegen der schlechten Vermögensverhältnisse meiner Eltern konnte ich nur die Volksschule meines Geburtsortes besuchen. Im Jahr 1908 trat ich als Bürolehrling bei dem Landratsamt in Fritzlar ein. Die Stellung gab ich im September 1911 auf, um meiner zweijährigen militärischen Dienstpflicht zu genügen5. Infolge der Mobilmachung wurde ich am 4.August 1915 zum Heeresdienst eingezogen und im Dezember desselben Jahre, nachdem ich mir das E.K.II erworben hatte, verwundet. Nach meiner Wiederherstellung zog ich abermals ins Feld. Im Juli 1915 wurde ich wieder verwundet. Vom Jahre 1916 bis zum Januar 1919 war ich dann als oberer Militärbeamter bei der Garnisonverwaltung Darmstadt.

    ... seit dem Jahr 1912 habe ich die freie Zeit, die mir mein Dienst bezw. mein Beruf liess, dazu verwendet, meine Kenntnisse zu erweitern. Der Krieg machte mir jedoch einen Strich durch die Rechnung. Nach meiner zweiten Verwundung nahm ich indessen die Arbeit - neben meinem Dienst - wieder auf und bestand sowohl die Einjährigen-Prüfung (März 1917) als auch das Abiturientenexamen (Dezember 1918) als Externer.

    Neben beruflicher Arbeit begann ich dann im Februar 1919 an der Universität in Marburg/Lahn mein Studium der Rechts- und Staatswissenschaften. Im April 1921 bestand ich das Referendarexamen und im Mai desselben Jahres das juristische Dokterexamen mit "gut". Vom Mai 1921 ab war ich als Gerichtsreferendar beim Amtsgericht in Fritzlar tätig und wurde im November desselben Jahres als Regierungsreferendar zur Regierung in Kassel übernommen.

    ...

    Am 16.Dezember 1924 wurde ich von der Stadtverordnetenversammlung der Stadt Plettenberg i/Westf. von 153 Bewerbern einstimmig zum Bürgermeister gewählt. Am 2. Januar 1925 übernahm ich die Leitung der städtischen Dienstgeschäfte. Ich bin evangelisch und verheiratet mit der Tochter Gerda des Herrn Generaldirektors Pforte in Hagen i/Westf." 6

    1930 wurde Dr. Schneider zum Oberbürgermeister gewählt. In den frühen zwanziger Jahren war er Mitglied der DDP, der Deutschen Demokratischen Partei, die mit der SPD und dem Zentrum die Weimarer Koalition bildete und für die Demokratie eintrat. Um im Amt zu bleiben, musste er nach langem Zögern im Mai 1933 Mitglied der NSDAP werden.

    Dr. Schneider war ein pflichtbewusster und fleißiger Oberbürgermeister (vgl. 1935 Kasernenbau), der genaue Verwaltungsberichte anfertigte, um die Entwicklungen in der Stadt und der Verwaltung beobachten und beeinflussen zu können. Nachdem er die Verwaltungsberichte über die Jahre 1926-1932 geschrieben hatte - was sein Vorgänger unterließ - legte er im Januar 1933 den Bericht über die Zeit 1914-1925 vor.

    Er begründet das so:

    "Wir glauben jedoch aus der Fülle der Ereignisse und des Stoffes das Wesentliche der Vergangenheit für die Gegenwart und Zukunft Bedeutsame und Interessante aus Deutschlands (und Lüdenscheids) schwerer Zeit in dem nachfolgenden Bericht festgehalten zu haben." 7

    Der Satz verdeutlicht, wie sehr das Bewusstsein vom Ersten Weltkrieg noch das Denken und Handeln des Oberbürgermeisters 1933 prägte. Nach seinen Aussagen wurden 1932 die Fensterscheiben seiner Dienstwohnung mehrfach von Steinewerfern zerstört. Das spiegelt die innenpolitischen Spannungen in Lüdenscheid.

    Auch wenn die NSDAP bis 1933 nicht in der Stadtverordnetenversammlung saß, war sie verdeckt seit 1923 und offen seit 1929 in Lüdenscheid tätig. Der spätere Kreisleiter Walter Borlinghaus gab seit 1930 die Parteizeitung "Der Scheinwerfer" heraus und übte scharfe Kritik an zahlreichen Ratsmitgliedern. Oft bestand sie aus Verleumdungen. Deswegen wurde er gerichtlich bestraft. Bis zum 30.1.1933 stand die Polizei auf der Seite der Demokraten und ihr Chef Rüdiger schritt ein, wenn NSDAP und SA gegen die öffentliche Ordnung verstießen.

  • 3. Judenfeindschaft

  • Wenn Jugendliche in der Altstadt vor 1933 "Heil Hitler!" und "Juda verrecke!"8 riefen und wie die SA marschierten, zeigt das, wie auch in Lüdenscheid das nationalsozialistische Denken und Handeln in das Leben immer mehr einsickerte. Eine nationalsozialistische Arbeitsgruppen am Zeppelingymnasium, eine Attacke auf einen jüdischen Schüler dort und der folgende Bericht zeigen, wie sich judenfeindliches Denken und Handeln auch in Lüdenscheid ausbreiteten.
    Erich Eckhoff berichtete:

    "Ich war als Hausdiener beim Bettenhaus Robert Stern (Wilhelmstr. 42) in Lüdenscheid beschäftigt und zwar bis Juni 1930. Ich wurde zu diesem Zeitpunkt von einigen Nazis überfallen und am Kopf so schwer verletzt, dass ich die Arbeit aufgeben musste. Nach meiner Wiederherstellung zog ich von Lüdenscheid nach Hagen."9

    Robert Stern gehörte zur Gruppe der ersten Lüdenscheider Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Seine Frau führte zunächst das Geschäft allein weiter, bis sie Hermann Behrendt heiratete, den letzten Vorsteher der jüdischen Gemeinde. Im Sommer 1938 mussten sie das Geschäft schließen, weil auch die Anpassung an die Nationalsozialisten - z.B. durch den Verkauf von HJ-Hemden - nichts gegen die Gewalt des staatlichen und gesellschaftlichen Antisemitismus ausrichten konnte.10

  • 4. Die Presse

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    Foto: 3 Lüdenscheider zeitungen

     

    In Deutschland hatte Alfred Hugenberg aus Westfalen-Lippe ein großes Presseimperium aufgebaut und als Vorsitzender der Deutschen Nationalen Volkspartei gegen die Weimarer Demokratie, gegen den Young-Plan und für einen autoritären Staat gearbeitet. In Hitlers erstem Kabinett war er der Reichswirtschaftsminister.

    Der Lüdenscheider Generalanzeiger hatte hier als auflagenstärkste Zeitung lange einen gemäßigt konservativen und manchmal liberalen Kurs gehalten, schwenkte aber während der Krise ab 1930 langsam auf den autoritären Kurs um und empfahl seinen Lesern am 17. Jan. 1933: "Die nationale Opposition (d.h. Gegner der Weimarer Demokratie, der Verf.) unter Führung der NSDAP muß die Verantwortung für die deutsche Geschichte übernehmen."11

 

 


1 Volksstimme 30.9.1932

2 Schulz, Weimar 376

3 Manfred Funke: Republik im Untergang, in: Bracher; Funke, Jacobsen (Hg.): Die Weimarer Republik 1918-1933, , 2. Aufl. 1988, S. 529

4 B. Haunfelder, R.Schorfheide: Westfalen, Münster 1999, S. 149 ff

5 Für Real- und Gymnasialschüler betrug sie nur ein Jahr, deshalb das Einjährige. Der Verfasser.

6 Quelle des Zitats: Stadtarchiv Lüd. B 47 032

7 Quelle des Zitats: Bericht über die Verwaltung ... der Stadt Lüdenscheid 1914-1925, Lüdenscheid Januar 1933

8 Lüdenscheider Generalanzeiger 9.9.1930

9 Quelle des Zitats: Sta Münster Arns Wieder 25338

10 Aussage Gerd Simon 2010

11 Hans-Günter Schmidt: "Es war die uns von Gott gegebene Obrigkeit", 1991, S. 65 f/ Antje Bockhacker: Die Stadt Lüdenscheid in der Endphase der Weimarer Republik, maschinenschriftlich Köln 1999; Sta Lüd

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