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Lüdenscheider Zeitbilder
 

1933 Machtergreifung durch NSDAP, SA und Polizei

1. Der Aufbau der Diktatur in Deutschland durch die Nationalsozialisten und ihre Freunde

2. Die Errichtung der NS-Diktatur in Lüdenscheid

3. Frühe Verhaftungen von Kommunisten und Kritikern

4. Lüdenscheider Chronik 1933

1. Der Aufbau der Diktatur in Deutschland durch die Nationalsozialisten und ihre Freunde

Foto: Ein Wahlplakat. Aufschrift: 'Gegen Papen, Hitler, Thälmann - Liste 2 Sozialdemokraten'
SPD-Wahlplakat 1932

 

Nach dem "Preußenschlag" - der Absetzung der sozialdemokratischen preußischen Regierung durch die Reichsregierung Brünings - am 14.7.1932 wurden von den 44 preußischen Polizeipräsidenten und -direktoren 22 ihrer Ämter enthoben und durch nationalkonservative Führungskräfte ersetzt. Damit war der Weg von der demokratischen und liberalen zur autoritären und totalitären Polizei für die Nationalsozialisten bereitet. Mit der Ernennung Hitlers zum Reichkanzler am 30.1.1933 und seiner Wahl am 5.3.1933 begann die Zerstörung der Menschen- und Bürgerrechte. Neben den Organisationen des nationalsozialistischen Einparteiensystems wurde die Polizei zum wichtigen Instrument des nationalsozialistischen Terrors ausgebaut.

Im Februar 1933 wurden weitere 13 Polizeipräsidenten preußischer Großstädte ihrer Ämter enthoben und diese Funktionen überwiegend höheren SA- und SS-Führern übertragen. Am 17.2.1933 erließ der Reichsminister ohne Geschäftsbereich und kommissarische preußische Innenminister Hermann Göring den berüchtigten Schießbefehl an SA, SS, Stahlhelm und Polizei, dass er die Verantwortung für "jede Kugel, die aus dem Lauf einer Polizeipistole geht" übernehme. Am 22.2.1933 wurden 50.000 SA-, SS- und Stahlhelmmitglieder als Hilfspolizisten in Parteiuniformen angestellt. Am 24.2.1933 befahl Göring die Herauslösung der politischen Polizei aus den Polizeipräsidien und die direkte Unterstellung unter ihn als kommissarischen Innenminister.

Am 28.2.1933 wurden mit der "Verordnung zum Schutz von Volk und Staat" die Grund- und Menschenrechte aufgehoben: Artikel 114: die Freiheit der Person, 115: die Unverletzlichkeit der Wohnung, 117: das Briefgeheimnis, 118: das Recht auf freie Meinungsäußerung, 123: das Versammlungsrecht, 124: das Recht zur Bildung von Vereinen und 153: die Unverletzlichkeit des Eigentums. Daraufhin verhaftete die Polizei mit den Sicherheitsorganisationen der NSDAP ca. 10.000 Kommunisten und Oppositionelle.

Mit der immer größer werdenden Zahl von Polizisten und Sicherheitskräften der NSDAP wurde der Eindruck von mehr Ordnung und Uniformität vermittelt. Hinter der Propaganda der Ordnung versteckte sich der tödliche nationalsozialistische Terror gegenüber so genannten "Volksfeinden." Dass schon 1933-1939 mehr als 3.000 verfolgte Deutsche durch Misshandlungen der Uniformierten sterben mussten, passte in den totalitären Machtwahn der Nationalsozialisten. Für den einzelnen Bürger war es immer schwieriger, die Vielzahl der Überwachungssysteme zu überblicken. Vor Ort gab es die staatliche Gemeindepolizei. Auf Landesebene arbeiteten die Kriminalpolizei und die Geheime Staatspolizei. Die Landespolizei wurde zur Zeit der Nationalsozialisten Ordnungspolizei und Schutzpolizei genannt. Insgesamt zählten die kommunale Polizei und die der Länder ca. 200.000 Beamte im Vollzugsdienst.

Die Partei der Nationalsozialisten hatte sich ebenfalls so genannte Ordnungskräfte zugelegt, um ihre Interessen auch mit Gewalt durchzusetzen. Die größte Gruppierung war die SA(Sturmabteilung), die 1933 ca. 400.000 Mitglieder zählte und vor Ort durch Umzüge und Aktionen die Ideologie der Nationalsozialisten schon in der Weimarer Zeit demonstrierte. SA-Stabschef Röhm verfolgte die Idee, Stahlhelm und alle anderen Wehrverbände zusammen mit der Wehrmacht zu einer ca. 4 Mio. starken Streitmacht für den Nationalsozialismus zusammenzuschließen. 1934 wurde im so genannten Rühmputsch die große Macht der SA von der SS und anderen Interessenten der Nationalsozialisten gebrochen und damit die Skepsis der Wehrmacht gegenüber der Macht der SA und den Nationalsozialisten aufgelöst.

Die angebliche Eliteeinheit der nationalsozialistischen Ordnungshüter war die SS (Sturmstaffel), deren Mitglieder nach biologischen Normen und nach der arischen Rasselehre ausgewählt wurden; sie zählte 1933 ca. 200.000 und zu Kriegsbeginn ca. 300.000 Mitglieder und war besonders für die mörderisch-elitäre Rassenpolitik zuständig. Fast die Hälfte der SS-Offiziere hatte einen Doktortitel in Jura, Wirtschaft, politische Wissenschaften oder Philosophie erworben.1 Der SS-Nachrichtendienst war der SD, der wie ein militärischer Geheimdienst arbeitete. Die "Sicherheitskräfte" des Staates und der Partei arbeiteten mit wenigen Ausnahmen im Laufe der Zeit immer enger zusammen für den rassistischen und militanten Nationalsozialismus und gegen dessen Kritiker und so genannte "Volksfeinde": Juden, Homosexuelle, Menschen mit Behinderungen, Sinti, Roma u.a. .

In der ersten Nummer der Zeitschrift "Der Deutsche Polizeibeamte" vom 1.9.1933 heißt es unter dem Titel "SA, SS, Polizei!":

"Früher konträre Gegensätze, heute zusammengeschweißte Einheit."2

Im gleichen Jahr forderte das Reichskriegsministerium die Bildung einer einheitlichen Reichspolizei. Bis zum 28.3.1940 wurden die Finanzhaushalte der Polizei von den 17 Ländern auf das Reich übertragen. Die Zentralisierung und Militarisierung der Polizei durch die Nationalsozialisten war ein Affront gegen die vertrauensbildenden Maßnahmen nach dem Ersten Weltkrieg. Die Alliierten legten 1925 als Grundlage für die Räumung der Besatzung des Rheinlands fest, dass 1. die Polizei regionalen und munizipalen Charakter haben müsse und 2. nicht militärisch aufgebaut sein und nur 100.000 Personen umfassen dürfe. Dagegen verfügte das preußische Innenministerium schon am 26. März 1933 die Errichtung von Landespolizeiinspektionen als zentrale Kommandostellen für die Mobilmachung und die truppenmäßige Ausbildung von Landespolizeieinheiten.

"Mit dem Übergang der Polizeihoheit der Länder auf das Reich am 30. Januar 1934 beanspruchte der Reichsinnenminister die Befehlsgewalt über die gesamte Landespolizei."3

Im Kriegsfall sollten nach dem Erlass des Reichswehrministers vom 8.2.1934 die Landespolizeikräfte unter den Befehl des Heeres treten.4 "Nach der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht ordnete Hitler am 21.3.1935 die sofortige Unterstellung des Reichsstabes sowie sämtlicher außerhalb der entmilitarisierten Zone stationierten Landespolizeieinheiten unter den Chef der Heeresleitung an."5 Ein Jahr danach wurden 56.000 Landespolizisten mit ihrer Ausrüstung in den Dienst der Wehrmacht gestellt.6 Sie bildeten den größten Anteil der Truppen, die die entmilitarisierte Zone, also das Rheinland, besetzten. Wie weit die gesellschaftliche Kriegsvorbereitung zur Aufgabe der Polizei gehörte, zeigte die Anweisung von Heydrich im Februar 1936, eine Kartei zu erstellen, die alle möglichen Staatsfeinde erfassen solle, die im Kriegsfall in Konzentrationslager einzuweisen seien. Ab 1938 sollten Verdächtige zu einem Besserungs- und Arbeitslageraufenthalt in Konzentrationslager eingewiesen werden. Zuständig hierfür wurde die Kriminalpolizei. Im November 1938 wurden nach der Reichspogromnacht ca. 30.000 jüdische Männer inhaftiert und misshandelt. Viele starben dabei. Die Konzentrationslager waren damals so überfüllt, dass der Missstand vom Leiter des SS-Sanitätswesens Dr. Grawitz scharf kritisiert wurde.7

Die Volksverbundenheit der neuen, der nationalsozialistischen Polizei sollte bei allen möglichen Gelegenheiten zum Ausdruck gebracht werden. Dafür wurde die Verkehrswoche in jedem September und der Tag der Deutschen Polizei am 18. Dezember eingeführt. An dem Tag wurde für das Winterhilfswerk gesammelt, das seit dem Ersten Weltkrieg eine große Zustimmung in der Bevölkerung fand. Von den örtlichen Polizeibehörden sollten außerdem die Gefallenenehrung auf Friedhöfen, Konzerte von Musikkorps, Sportfeste, Bunte Abende mit Künstlern und kostenlose Essen für Bedürftige organisiert werden. Himmler umschrieb die Aufgabe der Geheimen Staatpolizei in Deutschland 1937 mit der Überschrift

"Vom Büttel des Marxismus zum nationalsozialistischen, soldatischen Beamten."8
Auch wenn die Propaganda Hitler immer als Friedensstifter darstellte, wurde mit jedem Tag deutlicher, dass der Nationalsozialismus sich als Volksideologie verstand, die sich im Kampf gegen viele selbst ernannte "Volksfeinde" - Kommunisten, Pazifisten, Juden, sozial Schwache, Andersdenkende, Humanisten, Verfassungsfreunde, Menschenrechtler, Menschen mit Behinderungen u.a. - fühlte und deren Ausschluss aus der deutschen Gesellschaft anstrebte.

Nach der Unterstellung von 56.000 Landespolizisten unter die Wehrmacht bemühte sich die SS-Führung noch intensiver um die Macht über die Polizei. Am 20.9.1936 wurde die staatliche Kriminalpolizei der Geheimen Staatspolizei weitgehend angeglichen.9 Die Ausbildung der staatlichen und kommunalen Kriminalpolizisten wurde nach den Richtlinien der Sicherheitspolizei ausgerichtet. Ab 1936/37 war die Personal- und Behördenunion von SS und Polizei vollzogen. Alle höheren Positionen wurden von Männern übernommen, die in beiden Organisationen waren. Für die 13 Wehrkreise wurden Höhere SS- und Polizeiführer ernannt, die den Reichsverteidigungskommissaren zur Seite standen. Diese hohen Polizei- und SS-Führer hatten besonders die Aufgabe, alle Aktionen der SS, des SD, der Ordnungs- und der Sicherheitspolizei hinsichtlich der Verteidigung des Deutschen Reiches zu leiten.10 Dafür legte die Polizei 1939 eine Volkskartei an, um alle Personen für den Krieg zu erfassen. Auch die Schulen mussten alle schulpflichtigen Kinder melden. Außerdem musste eine Kartei angelegt werden, nach der zu Beginn des Krieges 46.000 verdächtige Personen inhaftiert werden sollten, die der innenpolitischen Gegnerschaft verdächtigt wurden.




2. Die Errichtung der NS-Diktatur in Lüdenscheid

Foto: Ein Wahlschein der Kommunalwahl Lüdenscheid März 1933
Wahlschein Kommunalwahl
Lüdenscheid März 1933

 

Die Darstellung der "Machtergreifung" der NSDAP in Lüdenscheid folgt zum Teil dem Aufsatz "Lüdenscheider Verwaltung 1933-1945" von Karl Lauschke.

"Am 24. Februar wurde Polizeihauptmann Ranocha aus Bochum vorübergehend mit der Leitung der 34-köpfigen Gemeindevollzugspolizei betraut. Der bisherige Leiter, Polizeikommissar Rüdiger, in einem späteren Bericht 'als einer der ärgsten und erbittertsten Gegner' der Nationalsozialisten bezeichnet, blieb zwar im Amt, wurde ihm aber direkt unterstellt. Formell war der amtierende Bürgermeister, der im April 1925 gewählte, hauptamtliche Beigeordnete Hans Rommel, auch weiterhin für die Exekutivpolizei in Lüdenscheid verantwortlich. - Bei der Verfolgung kommunistischer und sozialdemokratischer Funktionäre und Aktivitäten griff die Polizei in der Folgezeit hart durch. (...) Weitere personelle Veränderungen wurden zunächst nicht vorgenommen. Von den 28 SA-, SS- und Stahlhelm-Mitgliedern abgesehen, die Anfang März als Hilfspolizisten eingesetzt wurden, um die Schlagkraft der Polizei zu erhöhen, wurden weder neue Vollzugsbeamte eingestellt, noch wurden Bedienstete aus politischen Gründen entlassen. Manchen Nazis ging das trotz aller Erfolge der Polizei allerdings nicht weit genug, galten in ihren Augen doch gerade die Polizeibeamten in Lüdenscheid 'als völlig marxistisch verseucht'."11
Ranocha kehrte am 10.6.1933 nach Bochum zurück und der frühere Polizeikommissar Rüdiger wurde aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand versetzt.12

In dem teils mit großer physischer Gewalt geführten Konflikt waren Kommunisten die ersten Opfer. Im März und April 1933 wurde ca. jedes fünfte Mitglied der KPD in Haft genommen. Darunter befanden sich die leitenden Funktionäre Heinrich Muth, der frühere Sprecher der KPD-Stadtverordnetenfraktion, Werner Kowalski und Hans Kraus. Aber auch andere Kritiker wurden Opfer der SA und der Polizei. Schon am 24.4.1933 bestimmte die SA das Geschehen.

"Dr. Schulte zur Oven wurde von Angehörigen (! Polizeisprache) der S.A. und der Partei in seiner Wohnung abgeholt, durch die Stadt geführt und schliesslich bei der Polizeiverwaltung abgeliefert."13
Auch in Lüdenscheid hatte die SA mit der Unterstützung oder Duldung vieler nationalkonservativer Lüdenscheider und Mitgliedern der Kriegervereine schon ab März 1933 die Macht, Entscheidungen der lokalen Polizei zu bestimmen.




3. Frühe Verhaftungen von Kommunisten und Kritikern

Foto: Blick in einen Eisenbahntunnel. Menschen gehen hinein.
Der Eisenbahntunnel unter der Heedfelder Str.
(Nachkriegsfoto: 1945)

 

Nur der organisierte Widerstand der Kommunisten bildete noch eine kleine Gegenmacht. Vom 28. Februar an versteckten sich viele aus Angst vor der NS-Gewalt wochenlang im Tunnel der Eisenbahn unter der Heedfelder Str. Hier gab es gute Kontakte zu den Eisenbahnern, die jeweils über die fahrenden Züge informierten, vor denen die Nationalsozialisten Todesangst hatten. Im Juni 1933 verteilte hier der Kommunistische Jugendverband Deutschland Flugblätter. Deswegen wurden Arnold Regus und Werner Weber von der Gestapo in Lüdenscheid verhaftet und in die Emslandlager eingewiesen.

In der Auseinandersetzung zwischen der Polizei, dem Bürgermeister und der SA setzte sich die nationalsozialistische Sturmabteilung Lüdenscheids durch. Das zeigte sich, als die SA Dr. Schulte zu Oven verhaftete und der Polizei für die Schutzhaft aushändigte. Am 24. Juni 1933 verfügte der Polizeipräsident von Hagen gemäß einer Vorgabe des Regierungspräsidenten zu Arnsberg vom 27.3.1933 per Fernschreiben:

"sämtliche mitglieder der sozialdemokratischen partei deutschlands, die heute noch den volksvertretungen und gemeindevertretungen angehören sind sofort von der weiteren ausübung ihrer mandate auszuschließen, weil ihre weiterbetätigung eine gefährdung der öffentlichen sicherheit darstellt. Die kreispolizeibehörden haben daher solche (n!) personen durch polizeiverfügung aufzugeben sich der weiteren ausübung des mandates zu enthalten, widrigenfalls ihre polizeiliche inhaftnahme nach massgabe des paragr 1 der verordnung zum schutze von volk und staat vom 28.2.33 erfolgen würde.(...) vermögensgegenstände der spd und ihrer hilfs- und ersatzorganisationen sind (...) polizeilich zu beschlagnahmen"14

Am 31.7.1933 wurde der SA-Brigadeführer Escher feierlich als Nachfolger Ranochas und Polizeikommissar der Ortspolizei Lüdenscheid eingeführt. Nicht mehr die Polizei eines demokratischen Staates, sondern die Kampfgruppe der Staatspartei NSDAP verfügte nun hier über die "Sicherheit".

"Namentlich drei Hauptwachmeister (waren) ins Visier der NSDAP geraten, denen man vorwarf, Mitglied der SPD zu sein oder mit ihr zu sympathisieren und aus ihrer Feindschaft gegenüber den Nazis in der Vergangenheit keinen Hehl gemacht zu haben. In einem Brief an den Regierungspräsidenten wies der neue Leiter der Gemeindevollzugspolizei ausdrücklich auf zwei Beamte hin' welche heute noch ausgesprochene Marxisten sind, und sie mir die Gewähr an dem Aufbau eines nat.soz. Staates nicht geben. Ich bitte um Beurlaubung dieser beiden Beamten. Den Polizeibeamten J. bitte ich mit einem im Kreis Wittgenstein beurlaubten Beamten auszutauschen."
In seinem Überschwang fügte er noch hinzu:
"Wünschenswert ist, dass Herr Bürgermeister Rommel ausgewechselt wird, da dieses im Interesse des Wiederaufstiegs nötig ist.' Sein Eifer wurde jedoch gebremst. Der Magistrat fühlte sich durch diesen eigenmächtigen, anmaßenden Schritt übergangen und protestierte energisch dagegen."15
Einer der angezeigten Polizeibeamten konnte im Dienst bleiben, ein anderer wechselte als Bote in die Lüdenscheider Stadtverwaltung und ein dritter wurde für einige Zeit entlassen und zu Beginn des Krieges wieder eingestellt.
"Die Kontinuität, die sich die Verwaltungen nach der Machtergreifung auf diese Weise großenteils bewahren konnten, war jedoch nur möglich, weil sich umgekehrt auch die Beamten den neuen Verhältnissen ideologisch bereitwillig anpassten."16
Als am 1.4.1934 der Polizeikommissar Poppe Jansen aus Unna den SA-Brigadeführer Escher als Chef der Polizei in Lüdenscheid ablöste, änderte sich die Politik der Verfolgung von Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschaftern und Kritikern nicht.

Im Mai 1934 verteilten Kommunisten erneut Flugblätter in Lüdenscheid. Deswegen wurde Anton Vor inhaftiert. Auch Karl Asbach war von April 1933 bis zum Februar 1934 im Lüdenscheider Polizeigefängnis wegen eines an ihn adressierten Pakets mit Flugblättern inhaftiert.

Am 3.5.1935 verhafteten Polizeikräfte den Kassierer Theodor Schulze und einen Parteifreund, an den folgenden Tagen Werner Raulf, Heinrich Muth und 32 andere Kommunisten in der Stadt. Sie wurden in der Kirche der Haftanstalt Werl am 14.3.1936 zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt. Diese Aktionen standen unter der Leitung der Gestapo, konnten von ihr rein personell aber nicht allein verwirklicht werden, so dass die Ordnungspolizei mit den Kriminalsekretären und die SS beteiligt gewesen sein müssen. Die Verhaftung eines SPD-Mitglieds verlief laut Anklageschrift am 26.5.1934 so:

"In der Wohnung des Angeschuldigten Müller wurde die Durchsuchung von dem Polizeihauptwachmeister Flüss und dem SS-Mann Günther Fritsch vorgenommen. Die Druckschrift wurde aus einer Schublade des Küchenschranks entnommen. Die Ehefrau Müller, die Mutter des Angeschuldigten Adolf Müller, versuchte in diesem Augenblick die Druckschrift zu zerreißen. Sie warf sie sodann ihrem Sohn Adolf Müller zu, der das Flugblatt noch einmal durchriß. Erst hiernach konnte ihm das Flugblatt abgenommen werden."17

Foto: Die Karteikarte von Erwin Welke

        

        

Die Karteikarte von Erwin Welke:
    "Schutzhaft" vom 01.04.1933 - 12.04.1933
    "Schutzhaft" vom 15.05.1935 - 04.09.1940

 

Foto: Die Karteikarte von Wilhelm Kattwinkel:

        

        

Die Karteikarte von Wilhelm Kattwinkel:
    "Schutzhaft" vom 16.05.1935 bis 18.08.1942

 

Der Sozialdemokrat Wilhelm Kattwinkel wurde 1933 ebenfalls verhaftet, konnte aber flüchten. 1935 wurden das sozialdemokratische Ehepaar Woeste, Erwin Welke (Oberbürgermeister Lüdenscheids 1964-71) und Wilhelm Kattwinkel wegen der Verbreitung von Flugblättern zusammen mit weiteren Personen festgenommen. Wilhelm Kattwinkel wurde zu 7 Jahre Zuchthaus verurteilt.18 1935 brach der Widerstand in der Form der Verteilung von Flugschriften zusammen. Trotz der Auflösung des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbunds im Mai 1933 und der gewaltsamen Einführung der Deutschen Arbeitsfront gab es in mehreren Unternehmen Lüdenscheids neben den NS-Betriebszellen illegale freie Gewerkschaftszellen, die zum Beispiel für Inhaftierte und deren Not leidende Familien sammelten. Auch der etwas konservativ eingestellte katholische Gesellenverein, der katholische Arbeiterverein und andere Vereine waren großem Druck von Partei und Polizei ausgesetzt und mussten deshalb ihre Arbeit einstellen.

Im Juni 1934 hatte der Oberbürgermeister im Polizeibüro des Rathauses (Raum 2) eine Ortswache der SA eingerichtet, die der Zusammenarbeit beider diente.19 Gemeinsam arbeiteten sie für die Verwirklichung der nationalsozialistischen Herrschaft. An den Ausschreitungen gegen jüdische Bürger war in Lüdenscheid die Polizei selbst nicht beteiligt. Aber die Polizei wusste jeweils Bescheid und musste darauf achten, dass die Terrormaßnahmen nicht die "Falschen" trafen, sondern nur jüdische Bürger, die von der NSDAP zu Feinden erklärt wurden.

Außerdem war die Polizei gesetzlich verpflichtet, die Menschen, die zur Zwangssterilisation vom Gesundheitsamt und Erbgesundheitsgericht dazu verurteilt waren, ins städtische Krankenhaus zur Durchführung der Zwangsoperation zu bringen. Grundlage dafür war Paragraph 12 des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14.7.1933:

"Hat das Gericht die Unfruchtbarmachung endgültig beschlossen, so ist sie auch gegen den Willen des Unfruchtbarzumachenden auszuführen, sofern nicht dieser allein den Antrag gestellt hat. Der beamtete Arzt hat bei der Polizeibehörde die erforderlichen Maßnahmen zu beantragen. Soweit andere Maßnahmen nicht ausreichen, ist die Anwendung unmittelbaren Zwanges zulässig."20
Ca. 204 Zwangssterilisationen wurden vor 1939 an Lüdenscheidern vollzogen und mindestens 147 im Städtischen Krankenhaus ausgeführt. Mindestens eine endete im Oktober 1934 tödlich. 28 Ärzte, Richter, Polizisten, Lehrer, Krankenschwestern und Bürger waren daran beteiligt.21

Die Lüdenscheider Polizei zählte 1933 34 Polizisten. Nach 12 Jahren waren hier 81 Polizisten angestellt, von denen 56 im auswärtigen Einsatz, also im Krieg, standen. Der nationalsozialistische Propagandaspruch lautete:

"Die Polizei, dein Freund und Helfer."
Das galt aber nur für das angepasste Volksmitglied. Wer anders dachte oder für unnütz und fremd erklärt wurde, schwebte in der Gefahr, in dem Polizeistaat seiner Freiheit, seiner Gesundheit und seines Lebens beraubt zu werden. Zahlreiche Lüdenscheider Fabrikbesitzer wurden Hilfspolizisten und verfügten damit über staatliche Kompetenzen, z.B. das Recht auf Verhaftungen und Waffengebrauch.

Die Verwaltungsberichte der Stadt Lüdenscheid enthalten folgende Zahlen über die Inhaftierungen durch die (Hilfs-) Polizei:

Jahr                 1932  1933   1934    1935   1936   1937   1938   1939   1940
Festgenommene         108   299    146     272    285    348    430    251    216
Gefangenentransporte                                     345    195     97     74      

Bis zu Beginn der 50er Jahre zitieren die Wiedergutmachungsakten aus den Gefangenenbücher der Polizei. Ab 1958 ist das nicht mehr möglich - vermutlich weil sie "abhanden kamen".
Fasst man die wichtigen politischen Ziele der Vorkriegszeit zusammen, sofern sie mit der Polizei zu tun haben, so zeigt sich folgendes:

  1. Trotz der Friedenspropaganda rüsteten die Nationalsozialisten Deutschland von 1933 an sofort und umfangreich auf. Kritiker wurden inhaftiert. Das war Aufgabe der Polizei, die mit der SA, dem SD und der SS zusammenarbeitete.
  2. Kommunisten, aber auch Sozialdemokraten und Gewerkschafter wurden als politische Gegner willkürlich verhaftet und schon 1933 in Deutschland mehr als 500 ermordet. Polizei und Organisationen der Nationalsozialisten - SS, SA, SD u.a. - arbeiteten dabei teils zusammen, teils aber zu Beginn der NS-Zeit auch gegeneinander. Ein Klima der Angst entstand, das durch laute Jubelkundgebungen übertüncht wurde.
  3. Neben den Kommunisten wurden Juden zu den wichtigsten Feinden erklärt. Ihnen warf man vor, nicht zum Volk zu gehören, sondern es nur "auszusaugen". Die Kampfparole hieß: "Gegen das raffende Kapital, für das schaffende Kapital."
  4. Neben Andersdenkenden - besonders Menschenrechts- und Friedensfreunden - wurden besonders Menschen mit Behinderungen ausgegrenzt und diskriminiert. Wie in vielen Staaten Europas ordnete der deutsche ihre Zwangsterilisation an. In Deutschland folgte dann zusätzlich im 2. Weltkrieg ihre Ermordung, was Euthanasie genannt wurde. Deutsche Polizisten wirkten dabei mit.

Wer sich im städtischen Dienst nach dem Juni 1933, als alle Parteien verboten wurden, noch zu einer Partei bekannte, die nicht NSDAP hieß, wurde entlassen.22 - Der Leiter der Hilfsschule Theophil Walter widersetzte sich den Anweisungen der NSDAP und wurde nach dem Erlass vom 27.9.34 des preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung aus dem Dienst entfernt und in den Ruhestand versetzt.23
Oberbürgermeister Dr. Schneider, der noch 10 Jahre vorher Mitglied der DDP gewesen war und erst im Mai 1933 der NSDAP beitrat, ordnete am 5.10.33 an:

Foto: Ein Haus. Davor ein alter Feuerwehrwagen und zwei lange Leitern.Aufschrift auf dem Haus: 'Städtische Volksbücherei und Lesehalle'
Bis 1936 war die Stadtbücherei in der ersten Etage des Feuerwehrgebäudes neben der Medardus-Schule (heute: Lehrerseminar).
Am 24. Januar 1934 wurde hier ein Teil der aussortierten Bücher von den Nationalsozialisten und der Feuerwehr verbrannt.
Nach der Übernahme des Zentralgebäudes der Genossenschaft Einigkeit wechselte die Bücherei dorthin.

 

"Ich ersuche Sie (den Leihbuchhändler Gustav Petrat, Grabenstr. 5), umgehend eine Bereinigung vorzunehmen, indem die auszugsweise aufgeführten Bücher entfernt und hier abgeliefert werden. Ich setze Ihr Einverständnis voraus, dass diese unter das Verbot fallenden Bücher vernichtet werden und behalte mir vor, durch beauftragte Sachverständige Stichproben machen zu lassen, ob meiner Anordnung entsprochen worden ist."24
In der beigefügten Liste stehen insgesamt 77 Werke u.a. von Erich Kästner, Egon Erwin Kisch , Remarque (Im Westen nichts Neues), Kurt Tucholsky, Jakob Wassermann, Ernst Wiechert, Arnold Zweig und Stefan Zweig.
1953 sagte Gustav Petrat unter Eid aus:
"Falls ich die Bücher verborgen oder nicht abgeliefert hätte, hätte ich mit meiner Einlieferung ins KZ rechnen müssen. Ich habe versucht, einen Teil der Bücher bei dem Bademeister Paul Stahlschmidt zu verbergen, die Gestapo hat das aber erfahren und die Bücher bei ihm herausgeholt. Ich wurde dann von dem Polizeihauptmann Ranocha in erniedrigender Weise vernommen."

Mit welcher Gewalt die Nationalsozialisten und die Polizei vorgingen, zeigt der Brief von Frau Turck an die Lüdenscheider Polizei vom14.10.1933:

"Mein Ehemann ist im Verlauf der letzten 4 bis 6 Wochen zum dritten Mal von seiner Arbeit genommen worden. Er ist stets ein treu sorgender Vater für mich und seine Kinder gewesen. Auch war er bis heute noch nie arbeitslos. Ich habe 4 Kinder im Alter von 12 bis 1 Jahr und stehe in Erwartung des fünften Kindes. Da wir arm und ohne Vermögen sind, habe ich bereits die öffentliche Fürsorge in Anspruch nehmen müssen. Dazu kommt noch, dass ich durch die Aufregungen der letzten Tage einen Nervenzusammenbruch erlitten habe und auf Anordnung des behandelnden Arztes Dr. med. Fischer, vorläufig das Bett hüten muss. Ich liege hier jetzt allein und bin auf die Gnade fremder Menschen angewiesen. Da mein Ehemann der einzigste Ernährer und Seelsorger der Familie ist, bitte ich, denselben bis zum Abschluss des Ermittlungsverfahrens auf freien Fuß setzen zu wollen. Mein Mann ist bereit, sich der Polizei jederzeit zur Verfügung zu halten und denkt nicht daran sich flüchtig zu machen oder überhaupt staatsfeindliche Umtriebe zu proklamieren. Ich bitte nochmals meiner Bitte entsprechen zu wollen, da ich mit meiner Familie dem Verfall ausgesetzt bin."25

Paul Lück begründete 1955 seinen Entschädigungsantrag so:

Skizze: des KZ Börgermoor, 1933
Skizze: Hans Kralik:
KZ Börgermoor, Emsland, 1933

 

"Auf Grund meiner politischen Gegnerschaft zum Nationalsozialismus wurde ich verfolgt, indem ich am 6.4.1933 durch 2 SS-Männer verhaftet und in das Lüdenscheider Polizeigefängnis eingeliefert wurde. Von dort wurde ich im Mai 1933 in das KZ Benninghausen transportiert und von hieraus am 13.7.1933 entlassen. Am 10.5.1935 wurde ich, diesmal von der Dortmunder Gestapo, abermals verhaftet und in das Gestapogefängnis Dortmund Steinwache eingeliefert.
...
Am 14.3.1936 wurde ich vom 4. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu 3 Jahren und 3 Monaten Zuchthaus abgeurteilt. Unmittelbar nach meiner Verurteilung wurde ich in das KZ Lager Börgermoor Lager 1 eingeliefert und war dort bis zu meiner Strafverbüßung am 14.4.1938. Nach meiner Haftentlassung stand ich noch ein volles Jahr unter Polizeiaufsicht. Ich musste mich wöchentlich 2mal bei der Gestapo (Gertenbach) melden.
...
Zusammen mit meiner Ehefrau am 101.5.1935 verhaftet, wurde meine Wohnung durch die Dortmunder Gestapo verschlossen. Meine 2 Kanarienvögel wurden bei der im selben Hause wohnenden Frau Weide untergebracht. Dadurch, dass ich nun die Miete nicht zahlen konnte, führte man im Jan. 1936 eine Zwangsräumung durch. Die Wohnung wurde durch unbekannte Leute ausgeräumt und das gesamte Mobilar sowie alle Haushaltungsgegenstände auf dem in diesem Hause befindlichen Boden abgestellt. Nachdem nun meine Frau am 12.2.1937 aus der Haft entlassen war, war sie gezwungen, sich ein möbliertes Zimmer zu mieten. Sie fand dann bei dem Herrn Studienrat Sauerländer, damals wohnhaft in Lüdenscheid, Loherstr., ein Zimmer und zahlte hierfür monatlich RM. 20.--."26

1934 leitete Oberbürgermeister Dr. Ludwig Schneider den Verwaltungsbericht der Stadt vom April 1932 bis März 1934 so ein:

Foto: Dr. Ludwig Schneider
Dr. Ludwig Schneider, 1931-1935
Oberbürgermeister Lüdenscheids

 

"Der Verwaltungsbericht für die Zeit vom 1.4.1931 bis 31.3.1932 spiegelt noch besonders die Not der Gemeinden und den wirtschaftlichen Niedergang wider. Sinkende Einnahmen, steigende Wohlfahrtslasten, wachsende Gemeindebeträge ohne Ausgleichsmöglichkeiten und vergebliche Rufe nach Reichs- und Staatshilfe kennzeichneten die bedrohliche Lage der Gemeinden. Auch die bisher gesunden Finanzen der Stadt Lüdenscheid zeigten bedrohliche Merkmale dieser alles umfassenden Krise. Der nachstehende Verwaltungsbericht, der die Zeit vom 1.4.1932 bis 31.3.1934 umfaßt, zeigt den Höhepunkt der Krise und ihr Abflauen durch die wirksamen Maßnahmen der neuen Regierung, die das vor dem Chaos stehende Reich mit ungeheurer Spannkraft und Umsicht zielsicher auf den Weg des Aufstiegs führte. Eine große Zeit brach für Deutschland an. Auch ein städtischer Verwaltungsbericht kann seine Aufgabe für diesen Zeitabschnitt nur erfüllen, wenn er den gewaltigen politischen Umbruch, der sich in Deutschland vollzog, in großen Zügen darlegt. Eine ruhmlose Epoche nahm ein klägliches Ende, (So wurde die Weimarer Demokratie disqualifiziert, der Verf.) ihre Träger wurden weggefegt von dem Sturm der nationalen Erneuerung des deutschen Volkes. (also des Nationalsozialismus, der Verf.)
Am 30.1.1933 betraute der Reichspräsident und Generalfeldmarschall von Hindenburg den Führer der nationalsozialistischen Bewegung, Adolf Hitler, mit dem Reichskanzleramt. Nicht um einen Kabinettswechsel, den das deutsche Volk zum Überdruß oft genug erlebt hatte, handelte es sich dieses Mal. Mit dem 30.1. 1933 hatte das deutsche Volk eine Regierung. Die beiden Männer, die die Geschicke des Vaterlandes in ihre Hände nahmen, wurden gleichsam zu Symbolen der alten Größe und der jungen Kraft. In unserer Heimatstadt fand die nationalsozialistische Revolution begeisterten Widerhall. Am 6.3.1933 wurden durch die Partei am Rathaus und Amtshaus die alten Reichsflaggen schwarz-weiß-rot und die Hakenkreuzflaggen gehisst. (D.h.: Die Schwarz-Rot-Gold-Flagge der Weimarer Demokratie wurde verbannt, d.Verf.) Nachdem die Wahlen vom 5. und 12.3.1933 der nationalen Revolution die verfassungsmäßige Grundlage gegeben hatten, erfolgte der große Staatsakt in Potsdam. Am Grabe des großen Preußenkönigs versammelten sich die Abgeordneten des neuen Reichstags mit den übrigen Repräsentanten des Reiches, um Bekenntnis abzulegen für die Einheit, Ehre und Freiheit des deutschen Volkes.
Auch Lüdenscheid zeigte an diesem großen Tage ein festliches Bild. Girlanden und Tannengrün zierten die mit den Emblemen des neuen Reiches geschmückten Häuser. In den Schulen fanden Feiern statt; die meisten Fabriken und Geschäfte waren geschlossen. Die Stadtverwaltung hatte auf dem Adolf-Hitler-Platz (dem damaligen Karlsplatz) einen Großlautsprecher aufbauen lassen, um der Bevölkerung Gelegenheit zu geben, die Ansprache des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers zu hören. Am Abend formierten sich annähernd 6 000 Volksgenossen zu einem Fackelzug durch die von zahlreichen Zuschauern dicht umsäumten Straßen der Stadt. An dem Fackelzug, in dem 337 Fahnen und Wimpel gezählt wurden, schloß sich eine erhebende Feierstunde an der Bismarcksäule an. Während die weithin leuchtende Glut des Freudenfeuers auf der Bismarcksäule die zu Tausenden anwesenden Volksgenossen und die Fahnen der Parteigliederungen, der Verbände und Vereine umlohte, sprach der unterzeichnete Oberbürgermeister über die geschichtliche Bedeutung des Tages von Potsdam für das deutsche Volk. Er rief alle Volksgenossen auf, treu und unerschütterlich zum Führer zu stehen und mit ihm zu kämpfen für ein neues, deutsches Reich, für ein Reich der Ehre, der Freiheit und der Volksgemeinschaft.
Im Zeichen der neuen Zeit stand auch der 1. Mai, der Tag der nationalen Arbeit. Während früher am 1. Mai ein kleiner Trupp von 'marxistischen Klassenkämpfern' die Straßen der Stadt durchzog, versammelten sich im Jahre des Umbruchs am 1. Maitage die Angehörigen aller Berufsgruppen zu einem machtvollen Zug zum Schützplatz. (ca. 10 000, der Verf.) Sie bekundeten damit das Ende des marxistischen Klassenkampfes und den aufrichtigen Willen, in gemeinsamem Schaffen dem neuen Deutschland in wahrer Volksgemeinschaft zu dienen. Auf dem Schützenplatz würdigte Kreisleiter Borlinghaus in längeren Ausführungen die Bedeutung dieses Tage für das deutsche Volk.
(...)
Bevor der Winter 1933/1934 hereinbrach. organisierte die NSDAP das Winterhilfswerk, das unter dem Leitwort des Führers Adolf Hitler stand: 'In diesem Winter darf kein deutscher Volksgenosse hungern und frieren.' Eine einzigartige und machtvolle Propaganda setzte zur Erreichung dieses Zieles ein. Zum Leiter des Lüdenscheider Winterhilfswerks wurde der Prokurist Hugo Schmidt berufen, dem es im Verein mit seinen Helfern und Helferinnen gelang, den Befehl des Führers, dass niemand hungern und frieren solle, in die Tat umzusetzen. Es wurden für das Winterhilfswerk in Lüdenscheid gesammelt:
an Sachspenden                                   13 346 RM
an Spenden von Gutscheinen für Lebensmittel usw.    537 RM
an Geldspenden                                  123 631 RM
123 631 RM Ein Ergebnis, das selbst die größten Optimisten nicht erwartet hatten. Das Ergebnis beweist, wie stark der Gedanke der Volksgemeinschaft in unserer Stadt nach dem Umbruch Wurzel geschlagen hat.
(...)
Der folgende Rechenschaftsbericht der Stadtverwaltung zeigt, dass auch in Lüdenscheid den Worten des Führers Taten folgten."27

Obwohl Dr. Schneider bis zum 1. Mai 1933 kein Mitglied der NSDAP war, schönte er den gewalttätigen Verlauf der so genannten Machtergreifung in Lüdenscheid,



4. Lüdenscheider Chronik 1933

Die große Zahl der Ereignisse in Lüdenscheid kann nur in Stichworten wiedergegeben werden.

  • 30. Januar: Kundgebung der Kommunisten und Liberalen gegen Hitlers Ernennung auf dem Karls-Platz. Dabei wurde Hitler als "Bluthund" beschimpft. Obwohl die NSDAP nicht in der Lüdenscheider Stadtverordnetenversammlung vertreten war, legte sie erfolgreich gegen die Tolerierung der Kundgebung auf dem Karls-Platz (heute: Rathausplatz) beim Polizeipräsidenten in Bochum Protest ein.

  • Am 24. Februar schickte der den Polizeioffizier Ranocha, entließ den hiesigen Polizeichef Rüdiger und ergänzte die 31 Personen starke Polizei um 28 Hilfspolizisten aus den Reihen der SA, der SS und des Stahlhelms. Sie verfolgten nun mit der Autorität des nationalsozialistischen Staates besonders ihre alten politischen Gegner - die Kommunisten. Nicht nur die Kommunistische Partei und ihre Organe, sondern auch Zeitschriften der Gewerkschaften und der SPD wurden immer öfter verboten, z.B. der "Vorwärts" vom 16.bis 22. Februar.

  • Der Reichstagsbrand am 27.Februar 1933: Bis heute konnte nicht geklärt werden, ob die NSDAP oder der Kommunist van der Lubbe verantwortlich war. Schon am Tag danach konnte die NSDAP die Reichstagsbrandverordnung " Zum Schutz von Volk und Staat" vorlegen und erlassen, mit der alle wichtigen Bürgerrechte aufgehoben und viele Kritiker verhaftet wurden, besonders die Kommunisten.

  • Heinrich L. kam am 28.2. in Polizeihaft und dann die in KZ Benninghausen und Börgermoor; im November wurde er entlassen; vom Mai bis Juli 1935 wurde er wegen angeblichem Hochverrat von der Gestapo nach Dortmund gebracht und mangels Indizien entlassen.

  • Artur M. wurde am 28.2.1933 in das Polizeigefängnis Lüdenscheid gebracht und von dort nach Dortmund, dann in die KZ Benninghausen, Börgermoor und Esterwegen, von wo er am 15.6.1934 frei kam.

  • Kurt Uesseler wurde am 1.3.1933 in das Gerichtsgefängnis eingewiesen und anschließend ins KZ Benninghausen und Börgermoor, von wo er am 24.12.1933 entlassen wurde; nach seiner Einweisung in das Polizeigefängnis Dortmund am 13.9.44 starb er dort am 2.4.1945.

  • Franz M. wurde am 4. März 1933 verhaftet und von dort in die KZ Benninghausen und Börgermoor eingewiesen, von wo er am 13.3.34 entlassen wurde.

  • Reichstagswahl am 5. März 1933: Die Nationalsozialisten gewannen reichsweit mit 44 % die Mehrheit, in Lüdenscheid mit 33%. Auf Antrag der NSDAP stimmten alle Parteien des Reichstags außer der SPD und der KPD (deren Mitglieder inhaftiert waren) am 24.3.1933 für das "Ermächtigungsgesetz", mit dem die Regierung zukünftig allein Gesetze erlassen konnte. Damit gab die 2/3-Mehrheit der demokratischen Parteien auf Druck der NSDAP ihr Recht auf und ihre Pflicht zur Gesetzgebung an die NSDAP-Regierung ab. Am 1. April führte die SA mit dem SD und anderen Organisationen der NSDAP den ersten deutschlandweiten Boykotttag gegen jüdische Geschäfte und Juden durch. Das geschah auch in Lüdenscheid, wo der SD-Mann A. Wagner den Vollzug dokumentierte, bei manchen Aktionen auch mit der Kamera.

  • Das Ergebnis der Kommunalwahl im 12. März 1933 war in Lüdenscheid:
    33,2 % NSDAP                       = 13 Sitze: radikalnationalistisch
    21,3 % SPD                         =  8 Sitze: liberalsozialistisch
    16,4 % KPD                         =  6 Sitze: radikalsozialistisch
    10,4 % Kampffront Schwarz-Weiß-Rot =  4 Sitze: nationalkonservativ
     6,2 % Zentrum                     =  2 Sitze: katholisch-demokratisch-konservativ
     4,8 % Haus- und Wohungsschutz     =  1 Sitz:  besitzstandwahrend
     3,7 % Evangelischer Volksdienst   =  1 Sitz:  evangelisch-demokratisch-konservativ
    

  • Hans K. verlor seine Arbeitstelle bei der Stadt am 6.4.1933; am 11.4.1933 kam er in Polizeihaft und anschließend in die Konzentrationslager Benninghausen und Börgermoor; am 15.11.1933 wurde er entlassen.

  • Walter C. wurde am 10.4.1933 in das Gerichtsgefängnis eingewiesen, von dort in das Hilfskonzentrationslager Benninghausen und anschließend in das KZ Börgermoor, aus dem er am 21.3.1944 entlassen wurde.

Aber auch andere Lüdenscheider wurden verfolgt.

Foto: Ehrenbürgerurkunde A. Hitler
Adolf Hitler wurde wie in vielen anderen Städten
auch in Lüdenscheid 1933 zum Ehrenbürger ernannt.

 


Nach der Polizeitabelle der Inhaftierungen in Lüdenscheid wurden ca. 200 Verhaftungen aus politischen Gründen 1933 vorgenommen. Als Zeichen des neuen Geistes der Einheit und Geschlossenheit des "nationalen Aufbruchs" erklärten viele Städte Reichskanzler Hitler und Reichspräsident Hindenburg zu Ehrenbürgern. Das wurde auch in der Lüdenscheider Stadtverordnetenversammlung von der NSDAP beantragt, nachdem sie seit den Kommunalwahlen vom 12. März dort vertreten war. Die SPD blieb aus Protest der Sitzung fern. Deshalb schlossen die bürgerlichen und rechtsradikalen Parteien sie aus. Der Karlsplatz wurde nun "Adolf-Hitler-Platz" benannt und die Parkstr. "Hindenburg-Allee".
Gleichzeitig drängte die Nationalsozialistische Betriebszellen-Organisation den ADGB immer stärker zum Zusammenschluss. Das Reichsbanner und die Eiserne Front, die dem ADGB nahe standen, wurden verboten. Seit dem Februar wurden viele Gewerkschaftshäuser von (Hilfs-) Polizisten in Deutschland besetzt, Sekretäre verhaftet und misshandelt. Am 1.3. in Wuppertal, 9.3. in Hagen, 10.3. in Bochum, 15.3. in Dortmund u.a. Auch in Lüdenscheid wurde das neue Gewerkschaftshaus schon am 1. April kurzzeitig besetzt. Der ADGB schrieb am 5. April an den Reichspräsidenten, dass die Rechtssicherheit der Gewerkschaft durch die Übergriffe und die dauerhafte Besetzung von Gewerkschaftshäusern in 30 großen Städten nicht mehr gegeben sei. Die letzten freien Betriebswahlen im April 1933 fielen so aus: ADGB 73 %, NSBO 12 %, Christliche Gewerkschaften 8 %, RGO 5 % u.a. Die NSDAP warb mit Gewalt und Lockungen, um den ADGB und die Arbeiter in Deutschland auch durch die Einführung des arbeitsfreien 1. Mai für sich zu gewinnen.



Foto: Blick in eine Strasse mit Hakenkreuzfahnen. Viele Menschen.
1. Mai-Feiertag 1933 in der Wilhelmstr. .

 

  • Mai 1933: Die große Freude über die erste arbeitsfreie Maifeier ist auf erhaltenen Fotos aus Lüdenscheid gut zu sehen. Mehr als 10.000 Lüdenscheider (Einwohnerzahl ca. 36.000) nahmen an dem Aufzug und den Feierlichkeiten teil, viele aus Freude über die Aufbruchstimmung, manche aus Zwang und Angst. Am 2.5.1933 besetzten die SA das Lüdenscheider Gewerkschaftshaus, löste den Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund auf und verhaftete u.a. Franz Nevermann, Leiter der DMV, und Willy Bürger, Sekretär des ADGB . (vgl. 1934, Abschnitt 2) Die "Deutsche Arbeitsfront" übernahm die politische Interessenvertretung der Arbeitnehmer, denen ihre Mitbestimmungsrechte genommen wurden.
    Der Regierungsanweisung zur Aussonderung von "undeutschen" Büchern musste auch die Lüdenscheider Stadtbücherei folgen. Von ca. 14 000 Büchern wurden ca. 4 000 Bücher aussortiert und ein großer Teil im Frühjahr 1934 von der hiesigen Feuerwehr verbrannt. Völkische NS-Bücher wurden in großer Zahl hinzugekauft.

  • Juni 1933: Nach dem Verbot der SPD und der Selbstauflösung der anderen Parteien in Deutschland war die "politische Einheit" hergestellt. Andersdenkende durften sich nicht mehr öffentlich äußern, ohne Gefahr zu laufen, in "Schutzhaft" zu kommen.
    Eine jüdische Sekretärin der Amtsverwaltung Lüdenscheid, die Gewerkschaftssekretäre und führende Mitarbeiter des Arbeitsamtes und der Allgemeinen Ortskrankenkasse wurden entlassen. Viele erhielten Arbeitsverbote, manche konnten nach einiger Zeit in der freien Wirtschaft Arbeit finden.

  • Arnold R. wurde am 1.9.1933 verhaftet und in die KZ Neusüstrum und Börgermoor überführt; wegen Hochverrat wurde er in das Gefängnis nach Bochum geschickt, von wo er am 17.5.1935 entlassen wurde.

  • Franz S. wurde im Oktober 1933 in Polizeihaft genommen und kam von dort in das KZ Papenburg., von wo er am 21.3.1934 entlassen wurde.

Viele weitere Lüdenscheider, die zur KPD gehörten oder ihr nahe standen, wurden verhaftet. Nach heutigem Wissensstand kamen zehn aus Lüdenscheid ums Leben. (vgl. Gedenkbuch)
Gleichzeitig war die Mehrheit von den vielen großen Festveranstaltungen beeindruckt, die von der NSDAP allein oder in Zusammenarbeit mit anderen organisierte: Sommersonnenwendefest im Juni 1933 (vgl. Foto des Umzugs des BDM vor dem Haus Dicke, Knapperstr./Sternplatz), Unterstützung des Schützenfestes (vgl. Foto) u.a.

Foto: Aufmarsch des "Bundes Deutscher Mädel (BDM)" im Juni 1933.
Foto: Aufmarsch des "Bundes Deutscher Mädel (BDM)" im Juni 1933. Aufmarsch des "Bundes Deutscher Mädel (BDM)" auf der Knapperstr. zum Sternplatz im Juni 1933.
Anlass ist das Sonnenwendfest mit dem die Bedeutung der germanischen Kultur gefeiert wurde;
zu ihr wurden gezählt:
- Gehorsam,
- Unfiformität,
- Stärke,
- Stolz,
- Tatkraft u.a.

 

Foto: Der Schützenplatz Loh voll mit Menschen. Hakenkreuzfahnen.
1. Mai-Feier 1939 Schützenplatz Loh

 

 

 


1 Bella Guttermann, Avner Shalev (Hg.): Zeugnisse des Holocaust, Yad Vashem, Jerusalem 2005, S. 129

2 zitiert in: Jürgen Matthäus u.a.: Ausbildungsziel Judenmord? "Weltanschauliche Erziehung" von SS, Polizei und Waffen-SS im Rahmen der "Endlösung", Frankfurt 2003, S. 41

3 Wilhelm S. 67

4 Wilhelm S. 68

5 Wilhelm S. 69

6 Wilhelm S. 70

7 Wilhelm S. 104

8 Wilhelm S.72

9 Wilhelm S. 81

10 Wilhelm S.108

11 Karl Lauschke: Die Lüdenscheider Verwaltung 1933 bis 1945, in: M. Höffner, E. Trox: Lockung und Zwang. Die Stadt Lüdenscheid im Nationalsozialismus, Begleitband zur Ausstellung, Lüdenscheid 1999, S. 54

12 Lauschke, S. 55

13 StA Lüd (Stadtarchiv Lüdenscheid) B-00-1

14 StA Lüd B-000-2b

15 Lauschke S. 56

16 Lauschke S. 56

17 Sta Münster Arns Wieder 26492

18 Dietmar Simon: Arbeiterbewegung in der Provinz - Soziale Konflikte und sozialistische Politik in Lüdenscheid im 19. und 20. Jahrhundert, Essen 1995, S. 442

19 StA Lüd B-10-1

20 zitiert in: Margret Hamm (Hg.): Lebensunwert - zerstörtes Leben, Zwangssterilisation und "Euthanasie", Frankfurt 2005, S. 13

21 Bernd Walter: Rassehygiene und Gesundheitspflege in einer Stadtgesellschaft, in: M. Häffner, E.Trox: Lockung und Zwang, vgl. Anm.19, S. 206

22 Sta Münster Arns Wieder 54994: Schmiedecke

23 Sta Münster Arns Wieder 54999: Walter

24 Sta Münster Arns Wieder 54991

25 Sta Münster Arns Wieder 26486

26 Sta Münster Arns Wieder 26443

27 Bericht der Verwaltung der Stadt Lüdenscheid vom 1.4.32 bis 31.3.1934, Lüdenscheid 1935, S.1 f

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1934 Die Zerstörung der wirtschaftlichen
        Existenzen von Juden, Gewerkschaften,
        Konsumvereinen und Andersdenkenden

1. Zerstörung der wirtschaftlichen Existenz von jüdischen Lüdenscheidern

2. Zerstörung der wirtschaftlichen Grundlage von Konsumvereinen:

    - Konsum- und Produktionsgenossenschaft 'Einigkeit', Vorsitzender des Aufsichtsrats Herr vom Orde

    - Lüdenscheider Konsum-Verein, Geschäftsführer Herr Schmale

    - Konsum-Genossenschaft Volkswohl

3. Zerstörung der wirtschaftlichen Existenz von SPD-Mitgliedern

4. Max Kamper: Fabrikbesitzer und Fraktionsvorsitzender des Zentrums im Kreistag

5. Otto Hembeck, Bevollmächtigter der Drahtfirmen, Reichstagsabgeordneter DVP

6. Wirtschafts- und Finanzpolitik als Kampfinstrumente der Nationalsozialisten

1. Zerstörung der wirtschaftlichen Existenz von jüdischen Lüdenscheidern:

SA und SS übernahmen seit der Reichstagsnotverordnung im Februar 1933 hoheitliche Aufgaben der Verwaltung und Polizei. Am 1.4.1933 standen sie in Lüdenscheid und in ganz Deutschland vor jüdischen Geschäften und forderten alle auf, nicht bei Juden zu kaufen. Die Entlassung der jüdischen Angestellten Friederike Müller durch die Amtsverwaltung Lüdenscheid, viele Boykottmaßnahmen - z.B. gegen Dr. med. Max Dahl - und Berufsverbote vernichteten die wirtschaftliche Existenz, so dass in der Pogromnacht nur noch zwei jüdische Geschäfte zerstört werden konnten, weil mehr als zehn schon geschlossen waren. (vgl. 1938)

2. Gewerkschaften und Genossenschaften.

Schon im Februar 1933 waren die Stadtverwaltungen angewiesen worden, alle KPD-Funktionäre und Sekretäre der Freien Gewerkschaften der Regierung in Berlin zu melden.1

Goebbels schrieb am 17.April 1933 in sein Tagebuch:

"Den 1. Mai werden wir zu einer grandiosen Demonstration deutschen Volkswillens gestalten. Am 2. Mai werden dann die Gewerkschaftshäuser besetzt
...
Wir tun dem Arbeiter nur einen Dienst, wenn wir ihn von der parasitären Führung befreien, die ihm bisher nur das Leben sauer gemacht hat."2

Über die Ereignisse am 2. Mai in Lüdenscheid berichtet die Bürokraft des DMV und Augenzeugin Änne Piepenstock:

"Die SA stürmte - unter Begleitung der Schutzpolizei - in das Büro des DMV. Ihr Anführer schrie: 'Schlüssel raus!' Alle Diskussionen mit den Leuten nutzten nichts. Franz Nevermann, der Bevollmächtigte wurde auf der Stelle verhaftet und wie ein Verbrecher abgeführt. Der Kollege Nevermann war Asthmatiker und wurde bald vom Gefängnis in's Krankenhaus gebracht. Dort lag er dann unter der Bewachung von SA-Leuten. Kurz darauf musste er Lüdenscheid verlassen und ging nach Hohenneudorf bei Berlin. Dort eröffnete seine Frau - um den Lebensunterhalt zu verdienen - ein Lebensmittelgeschäft. Franz Nevermann erhielt Arbeitsverbot. Das Geschäft mussten sie kurze Zeit später wieder schließen, weil sich beide weigerten mit 'Heil Hitler' zu grüßen.
(...)
Willy Bürger - Bildungssekretär der Verwaltungsstelle - war während der Besetzung nicht anwesend. Er bewohnte ein kleines Zimmer im Obergeschoß des Gewerkschaftshauses. Es gelang ihm für einige Zeit unterzutauchen. Auch er wurde festgenommen, später freigelassen und musste - auch vom Arbeitsverbot betroffen - seinen Lebensunterhalt mit Gelegenheitsarbeiten und hausieren verdienen. Nach 45 gehörte Willy Bürger zu denjenigen, die die Gewerkschaften in Lüdenscheid wieder aufbauten. Fünf Monate nach der Zerschlagung der Freien Gewerkschaften in Lüdenscheid wurde auch Änne Piepenstock entlassen, weil sie sich geweigert hatte, der NSDAP beizutreten. Alle Organisationen der Freien Gewerkschaften wurden der NSBO unterstellt. Die übrigen Richtungsgewerkschaften schlossen sich einen Tag später freiwillig an; eine Ausnahme bildete der Christliche Metallarbeiterverband, der sich mit einiger Verzögerung den nationalsozialistischen Organisationen unterordnete."3

Zur besseren Versorgung seiner Mitglieder arbeiteten der ADGB mit der Konsum- und Produktionsgenossenschaft Einigkeit zusammen.

"In Lüdenscheid haben vor der nationalsozialistischen Herrschaft der im Jahre 1864 gegründete Lüdenscheider Konsumverein, die im Jahre 1895 gegründete Konsumgenossenschaft Einigkeit und die Verbrauchergenossenschaft Volkswohl nebeneinander bestanden. Während sich das Verbreitungsgebiet des Lüdenscheider Konsumvereins und der Volkswohl auf Lüdenscheid beschränkte, war das Verbreitungsgebiet der Einigkeit ausser Lüdenscheid auf das Rahmede-, Volme- u. Versetal erstreckt. Meiner Erinnerung nach unterhielt die Konsumgenossenschaft Einigkeit, die eine Produktivgenossenschaft war, insgesamt 27 Filialen, darunter 12 - 14 in Lüdenscheid, während der Lüdenscheider Konsumverein soweit ich mich erinnere, 8 und die Volkswohl 2 Filialen in Lüdenscheid unterhielten. Die Volkswohl-Verbrauchergenosssenschaft basierte auf christlicher Grundlage, während der Lüdenscheider Konsumverein etwa der Richtung der ehemals Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften entsprochen haben mag."4
"Zwischen der Verbrauchergenossenschaft Lüdenscheid u. der Konsumgen. Einigkeit bestanden gewisse Verschiedenheiten, die sich vielleicht aus der Art der Entstehung der beiden Genossenschaften erklären lassen. Während der Lüdenscheider Konsumverein um 1860 herum von Fabrikanten als Zuschussunternehmen im Interesse ihrer Arbeiter gegründet worden ist, handelt es sich bei der Konsumgenossenschaft Einigkeit um eine reine Gründung aus Arbeiterkreisen."5
"Schon während der Wirtschaftskrise 1929 und in den folgenden Jahren entfaltete die NSDAP in Lüdenscheid eine starke Propaganda gegen die Konsumvereine. Der damalige Ortsgruppenleiter und spätere Kreisleiter Borlinghaus war der Hauptrufer im Streit. Kein Mitglied der NSDAP durfte Mitglied eines Konsumvereins sein bzw. bleiben.
...
Als später auf Grund des Gesetzes vom 21.5.1935 sämtliche Lüdenscheider Konsumvereine aufgelöst wurden, kam ein Beauftragter der NSDAP, um die Liquidation und Auflösung schnellstens durchzuführen
...
Durch das Treiben der NSDAP wurden deshalb in Lüdenscheid alle drei vorhandenen Konsumvereine aufgelöst. gez. vom Orde, Aufsichtsratsvorsitzender der Konsum- und Produktivgenossenschaft Einigkeit von 1925 bis zur Auflösung"6

Der Aussage widerspricht die Firma Brücken in dem Prozess von 1951 um die Rückerstattung des alten Eigentums der Konsumgenossenschaft Einigkeit:

"Unrichtig ist auf alle Fälle die Angabe der Antragstellerin, dass die 'Einigkeit' auf Grund des Gesetzes vom 21.5.35 liquidiert habe;
...
denn der Grund für die Liquidation war nicht 'das Gesetz' vom 21.5.35, sondern
...
der bevorstehende Bankrott der Genossenschaft und die nicht zustandegekommene, aber beabsichtigte Fusion mit dem Lüdenscheider Konsumverein ... .
Die 3 Lüdenscheider Genossenschaften hatten im Jahr 1933 zusammen rund 6.500 Mitglieder."7

Im Geschäftsbericht für die Jahre 1931 und 1932 heißt es:

"Masslose Hetze gegen die Konsumvereine hat es doch nicht zuwege gebracht, dass der Mitgliederbestand sich wesentlich änderte. 355 neue Mitglieder sind der 'Einigkeit' beigetreten, dagegen traten 399 Mitglieder aus, so dass der Bestand immer noch 5.406 beträgt. Der geringere Umsatz bedingt (die) Verkleinerung des Geschäftsbetriebes. Hierbei konnte selbstverständlich nicht vor dem Personal Halt gemacht werden. In vielen einander folgenden Vereinbarungen wurden die Löhne und Gehälter mehrfach gesenkt. Das Personal verringerte sich durch Abbau und natürlichen Abgang um 12 auf 82."8
"So erinnere ich mich aus der damaligen Zeit, dass beispielsweise die Verkaufsstelle Brügge von Nationalsozialisten beobachtet wurde, wer dort seine Einkäufe tätigte, sogar unter Zuhilfenahme von Photoapparaten. Brügge ist überwiegend von Eisenbahnern bewohnt."

(Erklärung des Lehrers Otto Schürmann vom 1.3.1951 9)

"Ich, der Unterzeichnete Adolf Cordt, war lange Jahre bis zur Auflösung der Konsumgenossenschaft Lagerhalter der Verwaltungsstelle Bollwerk.
...
Durch Bekämpfung der Nationalsozialisten gingen die Umsätze stetig zurück. Die Bekämpfung steigerte sich nach der Machtübernahme. Es wurden Bewachungsposten vor den Verkaufsstellen aufgestellt ... die alle Käufer beobachten sollten mit dem Hintergedanken, die Käufer von den Verkaufsstellen fernzuhalten. Ein Herr Sönnecken aus Ahelle führte diese organisierte Aktion."10
"Im Geschäftsbericht 1934/35 der 'Einigkeit' wird hervorgehoben, dass im Jahre 1934 nicht weniger als 936 Mitglieder ausgeschieden sind. Offensichtlich ist dieser enorme Austritt auf die Übernahme der Konsumgenossenschaften durch die DAF zurückzuführen und auf den politischen Druck, der in mannigfaltiger Form gegen die Mitglieder der Konsumgenossenschaften ausgeübt wurde.
...
Durch die vorgenannten Zeugen wird schliesslich unter Beweis gestellt, dass der damalige Bezirksbeauftragte der NSDAP Meerkamp im Herbst 1935 die Vertreter der 3 Lüdenscheider Kgn. nach Dortmund bestellte und nach einer kurzen Erklärung anordnete, dass die Auflösung der Konsumgenossenschaften auf Grund des Gesetzes von 1935 zu beschliessen sei."11
"Dieser Zeuge (Herr Bornefeld) hatte damals die Konsumfiliale im Wermecker Grund in Lüdenscheid übernommen. Der Zeuge wird aussagen, dass kein Kunde sich irgendwie politisch bedrängt fühlte. Vielmehr kamen die Kunden sofort nach Übernahme des Geschäfts zu Bornefeld und äusserten ihre Freude darüber, dass endlich mal wieder genug Ware im Geschäft sei."12
Den Austritt von 935 Mitgliedern 1934 führe ich ...
"auf den politischen Druck zurück, der besonders Eisenbahnbeamte, die in Brügge zum grossen Teil wohnen, aber auch Lehrer u. andere Beamte einfach zwang, aus dem Konsumverein auszutreten."13
Herr Schmale sagt vor Gericht aus:
"Der Lüdenscheider Konsumverein hat dann die Liquidation beschlossen, die im Jahre 1936 beendet war. Wirtschaftlich war die Lüdenscheider Verbrauchergen. nach m.M. 100%ig gesund. Sie hatte wertvollen Grundbesitz, der für 85 000 RM in den Besitz der Stadt Lüdenscheid übergegangen ist, trotzdem er meiner Meinung nach doppelt soviel wert war."14

Nach dem Gesetz vom 21.5.1935 liquidierten die Konsumgenossenschaften Einigkeit und die Volkswohl, zusammen mit weiteren 70 in Deutschland.15 Wo sie sich politisch fügten, wurden sie toleriert, wo sie mit der SPD oder Kritikern der NSDAP zusammenarbeiteten, wurden sie vernichtet, wie es in Lüdenscheid geschah. In einem Brief von 1935 aus Lüdenscheid an den Reichsbund der deutschen Verbrauchergenossenschaften in Hamburg heißt es:

"Im Nachgang
...
muß ich ihnen heute mitteilen, dass nach Wiedereinsetzung des Jüngermann als Geschäftsführer von allen Parteistellen, Kreisverwaltungen, Kreisleitungen und vom Gau (Südwestfalen, Sitz in Bochum) große Unruhen in Lüdenscheid aufgetreten sind, so dass ich gezwungen war, sofort den Aufsichtsrat obiger Genossenschaft zu veranlassen, Jüngermann wegen seiner politischen Unzuverlässigkeit von seinem Posten mit sofortiger Wirkung zu entheben. Jüngermann war Fraktionsführer der SPD im Stadtrat und hat nach der Machtübernahme der NSDAP noch gegen diese gearbeitet ... . Der Posten wird nicht weiter besetzt. Ich habe den Geschäftsführer Auener veranlasst, in Gemeinschaft mit dem Ortsbeauftragten Radenheuser die Abwicklungsarbeiten zu erledigen."16
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Foto Heedfelder 24

 

Der Grundbesitz der Einigkeit umfasste 12 Wohn- und Geschäftshäuser die Zentrale und 7 unbebaute Grundstücke.17

"Offensichtlich ist dieser enorme Austritt (von 935 alten Mitgliedern 1934) auf die Übernahme der Konsumgenossenschaften durch die DAF (Deutsche Arbeitsfront) zurückzuführen und auf den politischen Druck, der in mannigfaltiger Form ausgeübt wurde ... .
Durch die vorgenannten Zeugen wird schliesslich unter Beweis gestellt, dass der damalige Bezirksbeauftragte der NSDAP Meerkamp im Herbst 1935 die Vertreter der 3 Lüdenscheider Kgn. nach Dortmund bestellte und nach einer kurzen Erklärung anordnete, dass die Auflösung der Konsumgenossenschaften auf Grund des Gesetzes von 1935 zu beschliessen sei, aus dem alleinigen Grunde, weil kein zur Gewährung einer Rückvergütung ausreichender Überschuss erwirtschaftet worden sei. Trotz des Widerspruchs dieser 3 Vertreter wurde nach wie vor die Liquidation verlangt. Bezeichnend ist allerdings, dass der Lüdenscheider Konsumverein am 29.4.1936 seine Liquidation beschloss, trotzdem er wirtschaftlich so stark war, dass er nicht hätte zu liquidieren brauchen. Die Liquidierung ist nur auf den politischen Druck von Meerkamp hin erfolgt."18
"Bei der ersten großen Entziehungsaktion konsumgenossenschaftlichen Vermögens auf Grund des Gesetzes über Verbrauchergenossenschaften vom 21.5.1935 (sind) die Vermögensteile der Genossenschaft im Wesentlichen (bei der Konsumgenossenschaft Lüdenscheid vollständig) in die Hände von Privatpersonen übergegangen."19

Die Aussage trifft an mindestens einer Stelle nicht zu, da das Haus des Lüdenscheider Konsumvereins an der Corneliusstraße(heute: Stadtbücherei) von der Stadt Lüdenscheid als Stadthaus übernommen wurde. 1936 berichtete das Amt Information der Deutschen Arbeitsfront:

"Die marxistisch-genossenschaftliche Tendenz der bei allen Konsumvereinen im Reich veranstalteten 'Werbeabende' mit ihrer meist offensichtlich staatsfeindlichen Beeinflussung der Teilnehmer gab den Partei- und DAF-Dienstellen immer wieder Veranlassung zu örtlichen 'Selbsthilfemaßnahmen'".20
Foto: Das Geschäft der Konsumgesellschaft 'Einigkeit' an der Strassenecke 'Im Schmidtschen Kamp/ Hasleystrasse.
Foto: Das Geschäft der Konsumgesellschaft 'Einigkeit' an der Strassenecke 'Im Schmidtschen Kamp/ Hasleystrasse. Das Geschäft der Konsumgesellschaft 'Einigkeit' an der Strassenecke 'Im Schmidtschen Kamp/ Hasleystrasse.

 

Der Name der Konsumgenossenschaft wurde durch die Bezeichnung Verbraucherverband verdrängt.
Zwischen den neuen Besitzern und den alten Genossenschaften gab es nach dem Krieg einen umfangreichen Prozess, in dem nach der unvollständigen Quellenlage nicht genau geklärt wurde, ob die Genossenschaften aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen aufgelöst wurden. In zahlreichen Aussagen wird deutlich, dass diejenigen, die national(sozial)istisch dachten und fühlten, keine Zwänge und kein Unrecht wahrnahmen, andere aber sehr. Es gab einige Ausgleichszahlungen z.B. des neuen Eigentümers Schützenstr. 4/6 an die Konsumgesellschaft Altena Lüdenscheid 1952.

 

Foto (2011) der ehemaligen Zentrale der Genossenschaft Einigkeit und Zeichnung des ehemaligen "Jägerhofs", in dem sich auf der ersten Etage die jüdische Gemeinde traf.
Foto (2011) der ehemaligen Zentrale der Genossenschaft Einigkeit und Zeichnung des ehemaligen "Jägerhofs", in dem sich auf der ersten Etage die jüdische Gemeinde traf. Foto (2011) der ehemaligen Zentrale der Genossenschaft Einigkeit und Zeichnung des ehemaligen "Jägerhofs", in dem sich auf der ersten Etage die jüdische Gemeinde traf.

 

Zu den Geschäften der Konsumgenossenschaft Einigkeit zählten: Bergstr.50/Brügge, Luisenstr. 7, Hasley/ Schmittchenkamp, Heedfelder Str. 24, Schlittenbacher Str. 12, Schützenstr. 4/6, Südstr. 10, Wermecker Grund, Worthstr. 92

3.Zerstörung der wirtschaftlichen Existenz von SPD-Mitgliedern:

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Jacob Müller (Foto: Ausweis Münster)

 

a) Jacob Müller.

Jacob Müller war SPD-Stadtverordneter in Lüdenscheid und Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft.

1927 gründete er die Firma Lüdenscheider Kunstgewerbe J. Müller & Sohn.

"Während die Firma nach den eidesstattlich versicherten Angaben in den ersten Jahren gut anlief, ging sie angeblich infolge des nach der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus im Jahr 1933 wegen der gegnerischen Einstellung und des einsetzenden Boykotts zurück, so dass sie im Jahre 1935 aufgegeben werden musste. Der A. (Antragsteller) gibt an, die Firma habe ein durchschnittliches Jahreseinkommen von 5 - 7.000 RM erzielt. Aus politischen Gründen wurde der V. (Verstorbene) am 1.3.1933 verhaftet und befand sich dann mit Unterbrechungen während deren er unter Polizeiaufsicht stand, bis zum 15.9.1933 in Polizeihaft. Seine Entlassung erfolgte mit der Auflage, das Stadtgebiet von Lüdenscheid zu verlassen. Nach der Haftentlassung war er nach den Angaben des A. (Antragstellers) wegen der während der Haftzeit erlittenen Gesundheitsschäden kaum in der Lage, einer gewerblichen Tätigkeit nachzugehen."21

Nach der Ausweisung beantragte J. Müller am 1.5.1933 die Rückkehr von Wetzlar nach Lüdenscheid. Darauf antwortete ihm am 3.5.1933 Bürgermeister Rommel als Chef der Ortspolizeibehörde im Auftrag des Oberbürgermeisters:

"Die in Ihrer hierher gerichteten Eingabe vom 1.d.M. erwähnte 'Amnestie' ist hier nicht bekannt. Es ist auch kaum anzunehmen, dass eine solche Amnestie tatsächlich ergangen ist, denn andernfalls müssten wohl die meisten bisher in Polizeihaft genommenen Personen bereits entlassen sein. Es ist bestimmt damit zu rechnen, dass im Falle Ihrer Rückkehr hierher die NSDAP Ihre erneute Inhaftierung betreiben würde und diesem Verlangen schliesslich auch stattgegeben werden müsste, um Unruhen und Schwierigkeiten mit den nationalen Verbänden zu vermeiden. Auch etwaige Loyalitätserklärungen würden sie schwerlich vor der erneuten Inhaftierung schützen. Deshalb ist Ihnen dringend anzuraten, bis auf weiteres noch dort zu bleiben. Ihre Rückkehr hierher erfolgt auf eigene Gefahr. Auch müssen sie sich darüber klar sein, dass, wenn Sie abermals in Polizeihaft genommen würden, schwerlich sobald wieder mit einer Freilassung gerechnet werden könnte."22
"Meine 6te u. letzte Inhaftierung erfolgte am 9/11/39 als Geisel früh 9 Uhr in der Fabrik Jünger Co. anlässlich des Attentates auf Hitler im Bürgerbräu München. Ein Stunde lang wurde ich im offenen Polizeiwagen in der Stadt herumgefahren. Jacob Müller."23

b) Wilhelm Woeste.

Der Straßenbauunternehmer Wilhelm Woeste schreibt in seinem Wiedergutmachungsantrag von 1952:

"Bei einer Vorsprache (1933) bei dem damaligen Baurat, Herrn Finkbeiner;
...
den ich fragte, warum ich keine Arbeit mehr von der Stadt bekäme, wurde mir dann im Beisein des jetzigen Leiters des Tiefbauamtes Herrn Stadtbaumeister Pithan, die Frage gestellt, welcher Partei ich angehört hätte. Als ich ihm wahrheitsgemäss sagte: 'Der SPD', erklärte mir Herr F., dann wüsste ich auch, warum ich keine Arbeit bekäme. Meine Leute musste ich entlassen und mich selbst nach einer anderen Erwerbsmöglichkeit umsehen, was mir leider nicht gelang, weil alle Angst hatten, mich zu beschäftigen.
...
Am 16. Mai 1935 wurden meine Frau und ich verhaftet.
...
Meine 2 Kinder wurden von Verwandten aufgenommen. Inzwischen wurden die Lebensmittelhändler vorstellig, die um Zahlung der gelieferten Ware baten.
...
Die Ware im Laden verschimmelte in der heissen Jahreszeit: Zum 1. Mai hatten wir noch Bilanz gemacht und einen Warenbestand von RM 4.200 festgestellt. Die Schulden betrugen ca. RM 700. Bei der Versteigerung der Ware blieben nur noch die Schulden übrig. Meine Frau wurde nach 11 Wochen auf freien Fuss gesetzt und stand vor dem Nichts. Zum zweiten Male wurde also unsere Existenz vernichtet. Die Wohnung mussten wir räumen, weil der Hausherr und einzelne Mieter des Hauses in einem Brief an die Stadt Lüdenscheid erklärten, nicht mit einem Staatsfeindlichen unter einem Dach wohnen zu wollen."24

4.Vertreibung des Zentrumsabgeordneten und Fabrikbesitzers Max Kamper aus der Geschäftsführung seiner Firma

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(Foto: Fabrik Max kamper (heute Sauerlandcenter))

 

Er war von 1916 bis 1929 alleinige Inhaber der Firma Max Kamper (früher Fa. August Grashoff Akt.-Ges.) Sie bestand aus den Walzwerken Lüdenscheid-Nattenberg, Elspe und der Fertigwarenfabrik Ecke Sauerfeld und Südstraße. 1930 wurde das Einzelunternehmen in die Familien-Aktiengesellschaft Max Kamper umgewandelt. 1919-1929 war Max Kamper Fraktionsvorsitzender des Zentrums im Kreistag und Kritiker der NSDAP. Außerdem war er fünf Jahre Stadtverordneter und Magistratsmitglied in Lüdenscheid. Durch die Weltwirtschaftskrise kam es zu Zahlungsverzögerungen, die der Gauwirtschaftsberater für Süd-Westfalen Dr. Pleiger zusammen mit dem Hirsch-Konzern (später Bimag) nutzte, um Max Kamper unter Androhung der Inhaftierung aus seinem Unternehmen zu verdrängen. Es arbeitete weiter unter dem Namen EMKA, aber ganz im Sinne des politisch gewollten Zwangskartells und der staatlichen Rüstungsaufträge.25 Ähnlich erging es dem Flugzeugkonstrukteur und Unternehmer Hugo Junkers (Junkerswerke) und anderen Gegnern der Nationalsozialisten.

5.Vertreibung des Geschäftsführer Otto Hembeck, ehemaliger Reichstagsabgeordneter der DVP

Ein Unternehmer schrieb nach dem 2. Weltkrieg über Otto Hembeck:

"Ich gehörte der Vereinigung der freien Drahtwerke und Drahtstiftfabriken e.V. Lüdenscheid seit der Gründung im Jahre 1933 an. Ich war zu der Zeit der Inhaber der Firma Wetzchewald, Drahtwerk, Hemer i./Westf. Da ich die Bedeutung dieses Zusammenschlusses infolge des harten Existenzkampfes für die kleineren Werke klar erkannte, habe ich vom ersten Tage an stets mit grösstem Interesse an den gemeinsamen Beratungen teilgenommen.
Die unbestreitbar grossen Erfolge, die Herr Hembeck als der Geschäftsführer der Vereinigung für die Mitglieder erzielte, schufen zudem eine Basis grossen Vertrauens, sodass die Zusammenarbeit eine vorzügliche war. Herr Hembeck wurde für die ganze Dauer des Bestehens der Vereinigung als Treuhänder zum alleinigen Vorstand gewählt. Jederzeit stand er uns mit Rat und Tat zur Seite und wir alle fühlten uns unter seiner Führung sicher.
Wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf uns dann im Juni 1934 die Nachricht, dass von Seiten der NSDAP gegen Herrn Hembeck vorgegangen worden sei, dass die Diensträume der Vereinigung und die Privaträume des Herrn Hembeck durchsucht und alle Akten, auch alle Unterlagen über den Aufbau und die Produktion der einzelnen Mitglieder von der Gestapo beschlagnahmt und fortgeführt worden seien.
...
Trotz allen Wehrens an Regierungsstellen und an Gerichten wurde Herrn Hembeck und seinen Freunden der Vereinigung jedwedes Recht versagt. Die brutale Willkür und Gewalt siegte und Herr Hembeck wurde beseitigt.
...
Ich weiss, dass durch die Beschlagnahme aller Unterlagen das Geschäftsgeheimnis brutal verletzt worden ist und dass die vertraulichsten Unterlagen z.T. der kartellisierten Konkurrenz zugängig gemacht wurden. Die Massnahmen der NSDAP führten schliesslich zur Zwangskartellisierung, die für die in der Vereinigung zusammengeschlossenen rund 200 Betriebe kurzerhand verfügt wurde. Wir waren rechtlos und Herr Hembeck wurde durch diese Gewaltakte entgegen den vertraglichen Vereinbarungen zwischen der Vereinigung und ihm entschädigungslos seiner Ämter enthoben."26

Otto Hembeck war viele Jahre Reichstagsabgeordneter der konservativen DVP, aber Gegner der NSDAP. Er konnte nicht verhindern, dass die DVP zusammen mit allen Parteien außer SPD und KPD dem Ermächtigungsgesetz am 23.3.1933 zustimmte, das der NSDAP die gesetzgebende Gewalt und damit die diktatorische Macht gab.

6.Wirtschafts- und Finanzpolitik als Kampfinstrument der Nationalsozialisten

Für zahlreiche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen stellte die nationalsozialistische Wirtschafts- und Finanzpolitik viel Geld zur Verfügung, das mit Wechseln verrechnet werden sollte, aber zur versteckten Verschuldung führte, die später einen Krieg zur Entschuldung immer dringender werden ließ. Hinzu kam, dass von 1933 an viele Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen schon für Infrastrukturprojekte getroffen wurden, die militärischen Zielen dienten, z.B. Straßenbau. Aber auch alle, die der nationalsozialistischen Politik genehm schienen, erhielten Gelder angeboten.
Zum Beispiel bot der Oberbürgermeister Lüdenscheids der katholischen Gemeinde St. Joseph und Medardus 20.000 Reichsmark (heutiger Euro-Wert ca. 400.000) aus den Arbeitsbeschaffungsprogrammen an. Sie erhielt 25.000 Reichsmark zur Renovierung der Kirche und des Waisenhauses.27

Wer nicht der nationalsozialistischen Politik entsprach, erhielt keine Kredite und scheiterte oft an den Spätfolgen der Weltwirtschaftskrise und an politischen Diskriminierungen. Wie sehr allein in Lüdenscheid die Ausgaben gesteigert und auf militärische Ziele ausgerichtet wurden, zeigen die Bauprojekte der drei Kasernen im nächsten Kapitel.

Nach der Ermächtigung der Polizei, willkürlich Schutzhaft zu verhängen, machte die nationalsozialistische Regierung die Finanz- und Wirtschaftspolitik zum zweiten wichtigen Instrument für den Kampf gegen innenpolitische Gegner. Die Nationalsozialisten verstanden sich als Kämpfer für "ein Volk, ein Reich, ein Führer", als Kämpfer gegen innenpolitische Gegner und für mehr "Lebensraum" also für Eroberungen in Osteuropa.28

 

 


1 D.Scheibe, S. 169

2 zitiert in D. Scheibe S.167

3 aus D. Scheibe S.209 f

4 Sta Münster Rück 13569 Bd.2/129

5 Sta Münster Rück 13569 Bd.2/131

6 Sta Münster Rück 13809/034, Lüdenscheid 1950

7 Sta Münster Rück 13569/011 +015, Lüdenscheid 29.5.1951

8 Sta Münster Rück 13569 Bd.2/022

9 Sta Münster Rück1369 Bd.2/074

10 Sta Münster Rück 1369 Bd.2/075, Lüdenscheid, den 9.3.1951

11 Sta Münster 13569 Bd.2/083

12 Sta Münster Rück 13569 Bd.2/118 f

13 Sta Münster Hag Rück 1369 Bd.2/130, Aussage von Herrn vom Orde vom 2.10.1952

14 Sta Münster Hag Rück Bd.2/131, Aussage vom 2.10.1952

15 Sta Münster Hag Rück Bd.1/110

16 Sta Münster Hag Rück 13809

17 Sta Münster Hag Rück 13569 Bd. 1 Bl. 194

18 Sta Münster Hag Rück 13569 Bd.1. Bl. 237

19 Sta Münster Hag Rück 13568

20 Sta Münster Hag Rück 13568 Bl.50

21 Sta Münster Arns Wieder 54865

22 Sta Münster Hag Rück 1369 Bd.2/130, Aussage von Herrn vom Orde vom 2.10.1952/ vgl. 13

23 Sta Münster Hag Rück 1369 Bd.2/130, Aussage von Herrn vom Orde vom 2.10.1952/ vgl. 13

24 Sta Münster Arns Wieder 26499

25 Sta Münster Arns Wieder 55007

26 Sta Münster Arns Wieder 64981

27 St. Joseph Lüd Archiv 873e

28 vgl. Adam Tooze: Ökonomie der Zerstörung, München 2007

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